1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Köthen
  6. >
  7. Warum Anhalt-Bitterfeld auch in den kommenden Monaten nicht zur Normalität zurückkehren wird

Erster „Cyber-Katastrophenfall Deutschlands“ Warum Anhalt-Bitterfeld auch in den kommenden Monaten nicht zur Normalität zurückkehren wird

Nach dem Cyberangriff auf die Landkreisverwaltung von Anhalt-Bitterfeld dauert der Kampf gegen die IT-Kriminellen an. Wo die Schwierigkeiten liegen und wie die Kreisverwaltung auf die kommenden Monate blickt.

Von Lisa Garn Aktualisiert: 15.07.2021, 09:54
Mit dem Cyberangriff auf Anhalt-Bitterfeld wurden Daten und Programme verschlüsselt. Die Täter verlangen für die Entschlüsselung Lösegeld.
Mit dem Cyberangriff auf Anhalt-Bitterfeld wurden Daten und Programme verschlüsselt. Die Täter verlangen für die Entschlüsselung Lösegeld. (Foto: Adobe Stock)

Köthen/MZ - Das Epizentrum im Kampf gegen die Internet-Terroristen wirkt wie ein normales Großraumbüro. Die Tür steht einen Augenblick offen. Der Raum ist hell beleuchtet, an einer Wand stehen etliche Kisten mit Wasser und Apfelschorle. Ein Mann mit kariertem Hemd ist aufgestanden und spricht. An einem langen Tisch sitzen junge Menschen mit aufgeklappten Laptops und diskutieren. Es herrscht eine ernste Geschäftigkeit in diesem kleinen Zimmer, in dem seit Tagen IT-Experten nach dem Weg aus der Katastrophe suchen.

Dann schließt sich die Tür. Was an Wortfetzen zu verstehen war, darf nicht geschrieben werden. „Wir wollen diesen Kriminellen nicht die kleinste Information geben, was hier gerade passiert. Der Feind liest alles mit“, sagt Udo Pawelzcyk. Er ist Pressesprecher vom Landkreis Anhalt-Bitterfeld und sagt mit diesem Satz auch viel über die Ängste, die die Attacke in der vergangenen Woche ausgelöst hat.

„Ein Mitarbeiter hatte morgens seinen Computer hochgefahren und auf nichts mehr Zugriff“

Der Landkreis mit rund 160.000 Einwohnern ist am Dienstag Opfer eines schweren Cyberangriffs geworden. Pressesprecher Pawelzcyk spricht von dem größten auf eine öffentliche Verwaltung in Deutschland. Vermutlich in der Nacht wurde ein Verschlüsselungstrojaner aktiv; dabei handelt es sich um Schadsoftware, die Computersysteme infiziert. Innerhalb kurzer Zeit waren Daten und Programme verschlüsselt.

„Ein Mitarbeiter hatte morgens seinen Computer hochgefahren und auf nichts mehr Zugriff“, berichtet der Pressesprecher. „Es gab einen Anruf in der EDV-Abteilung, ob man das beheben kann. Und dann war sehr schnell klar, dass alles viel schlimmer ist.“ Die gesamte IT wurde lahmgelegt - nichts geht mehr, kein Programm, kein Internet, kein Drucker.

Anhalt-Bitterfeld gilt als erster „Cyber-Katastrophenfall Deutschlands“

Seitdem befindet sich die Verwaltung mit etwa 900 Mitarbeitern im Ausnahmezustand. Nachdem der bis dahin amtierende Landrat den Katastrophenfall ausgerufen hatte, steht Anhalt-Bitterfeld als erster „Cyber-Katastrophenfall Deutschlands“ in den überregionalen Schlagzeilen. „Das Haus ist abgebrannt, und wir müssen es jetzt Stück für Stück wieder aufbauen. Wir haben nicht sofort eine neue Hülle“, so fasst es Pawelzcyk in ein Bild.

Abgeklemmt: Landkreissprecher Udo Pawelczyk im Büro
Abgeklemmt: Landkreissprecher Udo Pawelczyk im Büro
(Foto: Nicklisch)

Ob es eine Lösegeldforderung gibt, dazu will Pawelczyk sich nicht konkret äußern. Am Dienstag hat allerdings das Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt bestätigt, dass die Angreifer Lösegeld fordern. Das sagte ein Sprecher in Magdeburg. Zur genauen Höhe machte er keine Angaben. Nicht selten seien solche Lösegeldforderungen aber in sechs- oder siebenstelliger Höhe. Pawelzcyk sagt dazu nur so viel: „Das sind Hochkriminelle, die hinter dem Angriff stecken. Alles andere ist Sache der Ermittlungsbehörden.“

Die Beschäftigten arbeiten zwar alle - doch erreicht werden können sie nur telefonisch, per Fax oder Brief.

In der Landkreisverwaltung ist die Stimmung angespannt. Die Beschäftigten arbeiten zwar alle - doch erreicht werden können sie nur telefonisch, per Fax oder Brief. „Das ist für alle eine sehr schwierige Situation“, so der Landkreissprecher. „Man kann nicht das machen, wofür man angestellt ist. Und man weiß auch nicht, wie die nächsten Monate werden.“ Anhalt-Bitterfeld kann derzeit keine Sozial- und Unterhaltsleistungen auszahlen.

Es lassen sich keine Kfz zulassen, Bauanträge werden nicht erledigt. „Das größte Problem sind die Menschen, die ihr Geld nicht bekommen. Das hat oberste Priorität. Von den kleinen Sachen wie Jagdscheine oder Fischereischeine reden wir gar nicht erst.“ Der Landkreis könne zwar einzelne Überweisungsträger ausstellen, aber es gebe keine große Lösung. Schließlich müssten auch Baufirmen und die Angestellten der Verwaltung bezahlt werden. „Wir müssen jetzt sortieren, was am wichtigsten ist und was machbar ist.“ Manchmal könnten auch schnelle Lösungen gefunden werden. Kürzlich war ein Mann in der Ausländerbehörde, weil sein Aufenthaltstitel verlängert werden musste. „Das geht im Einzelfall auch mal mit einem Stempel.“

Momentan geht Udo Pawelczyk er davon aus, dass die Verwaltung erst in drei bis sechs Monaten wieder einsatzfähig ist

Tage wie diese hat Pawelczyk in seinen fast 30 Jahren als Pressesprecher nur zweimal erlebt - zur Flut 2002 und 2013. Nur dieses Mal wird der Katastrophenfall vermutlich länger bestehen. Momentan geht er davon aus, dass die Verwaltung erst in drei bis sechs Monaten wieder einsatzfähig ist - in welchem Rahmen, ist unklar. „Und das ist ohnehin nur eine vorsichtige Schätzung. Es ist eine Mammutaufgabe. Im schlimmsten Fall müssen wir die IT komplett wieder neu aufbauen.“ Das würde Millionen Euro kosten.

Vor dem Wochenende waren IT-Experten des Bundesamtes für Sicherheit und Informationstechnik angereist. Auch Experten des Landeskriminalamtes sowie des Finanzministeriums Sachsen-Anhalts und mehrere IT-Firmen aus der freien Wirtschaft sind vor Ort. „Das ist die Champions League der IT-Sicherheit.“ Die Spezialisten suchen die Eintrittsstelle für den Trojaner, bisher unbestätigte Vermutungen gehen von einer Sicherheitslücke in der Drucker-Warteschlange aus. Außerdem soll bis Ende dieser Woche eine Not-Infrastruktur aufgebaut werden, damit einige Dienstleistungen und die interne Kommunikation wieder möglich sind.

Mehrere Bürgermeister aus Sachsen-Anhalt haben inzwischen Hilfe angeboten

Mehrere Bürgermeister aus Sachsen-Anhalt haben inzwischen Hilfe angeboten. Einzelne Fachbereiche sollen nun ausgelagert werden. „Pro Amt sollen zudem zwei bis drei Arbeitsplätze mit sauberen Laptops ausgestattet werden, um die wichtigsten Arbeiten erledigen zu können.“ In Dessau-Roßlau sind bereits Mitarbeiter des Gesundheitsamtes untergebracht, die dort mit dem eigenständigen Softwareprogramm unter anderem die Corona-Kontaktnachverfolgung und Aufgaben des Pandemiestabes bearbeiten. Auch umliegende Städte wie Halle und Bernburg kämen in Frage, beispielsweise um KfZ-Zulassungen auszustellen.

„Aber das muss alles noch geprüft werden, was wie möglich ist“, sagt Udo Pawelzcyk. „Wir erarbeiten jetzt eine Prioritätenliste - man kann einfach nicht 100 Dinge gleichzeitig machen.“