Vortrag im Veranstaltungszentrum Köthen Vortrag im Veranstaltungszentrum Köthen : Eine "Wult" voller Maulwürfe

Köthen - „Es ist riskant. Der Vortrag hat ein Eigenleben“, warnt Roland Berbig zu Beginn. Schon ist sie da, die Irritation. Denn der Professor für Literaturwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin nimmt das Publikum am Sonnabend im Maria Barbara Bach-Saal des Veranstaltungszentrums Köthen mit auf einen „Spaziergang im Sitzen“. Niemand wird hier spazieren, doch öffnet sich vor den Augen der Zuhörer eine Welt. Die von Ilse Aichinger und Günter Eich, dem Schriftstellerpaar der deutschen Nachkriegszeit. Es ist eine Welt der Sprache, um die es geht. So muss es sein, hat doch die Neue Fruchtbringende Gesellschaft, die Köthener Gesellschaft für Sprache, eingeladen.
"Gruppe 47"
Berbigs Spaziergang führt in eine Landschaft im Spätsommer. Vögel zwitschern, die Natur ist in voller Blüte, das Sonnenlicht taucht alles in ein wunderbares Licht. Mittendrin das Paar, etwas abseits die Sprache. Ilse Aichinger und Günter Eich, die sich 1951 in der Schriftstellertruppe „Gruppe 47“ kennenlernen und 1953 heiraten. Ein Paar, das sich im Dienst der Sprache sah. „Die Welt als Sprache zu sehen“, war in beider Werk erkennbar, stellt Berbig unterhaltsam in Textzitaten und Sprachbeispielen dar.
Da ist Ilse Aichinger, geboren 1921 in Wien und Halbjüdin. Geprägt vom Schrecken des Krieges und der Deportation ihrer Familie. Sie plagt das Missgeschick, dass sie kein Blut sehen kann und nicht Ärztin werden kann. Statt dessen schreibt sie nach Kriegsende den vielbeachteten Roman „Die größere Hoffnung“ und fragt sich danach immer wieder „Sollen wir uns auf deren Worte einlassen“, wie der Literaturwissenschaftler zitiert. Berbig betont Aichingers Verunsicherung und Wahrnehmung der Welt mit jenem Zitat, das dem Vortrag den Titel gibt. „Wult wäre besser als Welt. Weniger brauchbar, weniger Geschichte. Aber jetzt ist es so. Normandie heißt Normandie und nicht anders“.
Die Unsicherheit im Umgang mit der deutschen Sprache als humaner Sprache, wie Berbig es nennt, greift Aichingers Ehemann und wohl auch Partner im Geiste, Günter Eich, zunehmend in seiner Lyrik auf. Eich ist deutlich älter als die junge Schriftstellerin, geboren 1907 in Lebus an der Oder. Er macht sich nach 1933 mit Rundfunkproduktionen und Hörspielen einen Namen. Er ist nicht wirklich Gegner der Nationalsozialisten. Trotz der Unterschiede finden Eich und Aichinger zusammen. Auch künstlerisch. Eich greift auf, „wie Sprache sich bei ihr neu erfand“. Aichinger schrieb immer kürzere Texte, die sie als „Maulwürfe“bezeichnete.
Parodie vom Feinsten
Die Maulwürfe finden sich mit den Jahren häufiger in Eichs Werk. Drastische Wortwahl, Verdrehungen, Spielereien mit Worten, Sprichwörtern und deren Bedeutung. Berbig gibt Beispiele: „Heute bin ich kopflastig, das ist selten, ich zitiere wie Espenlaub“. Das irritiert den Zuhörer im ersten Moment, dann lockt es ihm ein Schmunzeln hervor. Es ist auch Kritik dabei und sogar „Parodie vom Feinsten“, wie der Literaturwissenschaftler mit der „Episode“ von 1968 illustriert: „Ich wache auf und bin gleich im Notstand. Gründe weiß ich nicht genau, verhafte vorsorglich meine Kinder“. Es ist die Zeit der Notstandsgesetze und Franz Josef Strauß, von Studentenprotesten und Rudi Dutschke. Die Welt scheint nun mehr Wult und ist aus den Fugen geraten.
Noch einmal kehrt Berbig zurück in die Sommerlandschaft, wo sich nun der Abend neigt. Das Paar Aichinger und Eich: „Aus zwei ist eins geworden. Es geht in die Nacht, die Worte sorgsam gewählt.“ Der Spaziergang endet. Der Zuschauer ist erschöpft und doch beeindruckt. Des Professors Warnung war gut gewählt: In der Tat hat Berbigs Vortrag seine eigene Kunst entfaltet. (mz)