Nach Sturz aus Flugplatz-Tower Nach Sturz aus Flugplatz-Tower in Köthen: Freunde des 15-Jährigen kämpfen weiter mit den Folgen

Köthen - Liliane (alle Namen geändert) hat das Bild immer noch vor sich. Egal, ob sie die Augen schließt oder nicht. Sie sieht ihren Freund Marius am Boden liegen. Blutend. Bewegungsunfähig. Blicklos. Abgestürzt aus einer Höhe, über die man sich hinterher nicht einig sein wird: Waren es 15 Meter? Oder doch „nur“ 12?
Liliane war dabei, als der 15 Jahre alte Marius am Samstag auf dem ehemaligen Tower des Köthener Flugplatzes in die Tiefe stürzte. Sie war dabei und noch andere Köthener Jugendliche, zwölf Jahre alt, auch 13 und 15. Sie waren für quälend lange Sekunden vom Entsetzen wie gelähmt.
Zwei Jungs rannten weg, erinnern sich Liliane und ihre Freundinnen. „Die hatten Schiss“, sagen sie. Kein Wunder: Erstens hatten die Jugendlichen am Unfallort nichts zu suchen. Für das Gelände gilt ein Betretungsverbot. Zweitens war bei einigen von ihnen Alkohol im Spiel.
Per Telefon riefen sie den Rettungsdienst
Die Jugendlichen aber, die vor Ort blieben, machten das einzig Richtige in der schrecklichen Situation: Per Telefon riefen sie den Rettungsdienst, der nach endlos scheinenden zehn Minuten auch eintraf und sich um Marius kümmerte. Nur soweit das vor Ort möglich war: Der Junge musste anschließend schleunigst per Rettungshubschrauber nach Halle gebracht werden. „Inzwischen ist er zweimal notoperiert worden“, sagt die Mutter eines der Mädchen, die am Sonntag den schrecklichen Unfall auf dem Flugplatzgelände miterlebten.
Die Familie des Mädchens war nach der in der MZ veröffentlichten Polizeimeldung aktiv geworden. Vor allem, um den Mädchen Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Es habe sich so gelesen, als hätten alle Jugendlichen, die auf dem Tower dabei waren, Alkohol getrunken. Dem sei nicht so. Die Polizei, die ebenfalls vor Ort war, habe die Jugendlichen auf Alkohol getestet und bei den Mädchen nichts gefunden.
Nichtsdestotrotz seien sie in ihrer Schule als „Alki-Kinder“ angefeindet worden. Wenn man davon absehe, dass sie auf dem Tower, dessen Betreten verboten ist, nichts zu suchen hatten, hätten sie stattdessen Anerkennung und „ja, auch Dank“ verdient, „weil ohne ihre Geistesgegenwart die Situation für Marius vielleicht noch schlimmer geworden wäre“. Liliane sagt es unumwunden: „Ohne uns wäre er bestimmt gestorben.“
Marius stürzte in die Tiefe, sein Kumpel konnte nur noch hilflos hinterhersehen
Zwar gibt es keine Einzelheiten über die Schwere der Verletzungen von Marius, aber die Beschreibung des Unfalls lässt das Schlimmste vermuten. Der 15-Jährige habe sich mit den anderen Jugendlichen - fünf Jungs, drei Mädchen, nämlich Liliane, Carla und Estelle - auf dem Dach des vor Jahren bei einem Brand beschädigten Gebäudes aufgehalten.
Plötzlich habe er die Idee gehabt, noch etwas aus dem Supermarkt holen zu wollen und sei die Treppe heruntergelaufen - sein Freund Titus etwas weiter hinter ihm. „Und plötzlich ist er auf einer Stufe gestolpert und gefallen“, sagt Titus.
Marius stürzte in die Tiefe, sein Kumpel konnte nur noch hilflos hinterhersehen. Man sei schnell zu Marius hingelaufen, habe wohl noch versucht, ihn aufzurichten - die Erinnerungen der Jugendlichen gehen hier auseinander, zumal ihnen die Erinnerung an diese schrecklichen Minuten sichtlich zusetzen.
Mütter hätten sich mehr Betreuung für die Kinder gewünscht
Das versetzt auch ihre Mütter in besondere Sorge. Zwar sei am Samstag eine Notfallbetreuerin mit vor Ort erschienen, aber nur kurz, dabei, so eine der Mütter, „hätten die Kinder längere Zuwendung gebraucht“. Man habe die Beraterin außerdem gefragt, ob es nicht besser wäre, die Kinder nicht in die Schule zu schicken, „aber uns wurde geraten, es doch zu tun“ - der Ablenkung wegen, damit die Gedanken der Jugendlichen nicht immer nur um den Unfall kreisen müssten und darum, wie es Marius wohl gehen würde.
Auch Liliane hatte es ursprünglich besser gefunden, am Montag in die Schule zu gehen - aber die Reaktionen dort seien dann doch „scheiße“ gewesen. Außerdem, beklagen die Mütter, hätte man an diesem Tag in der Schule eine Geschichtsarbeit geschrieben und die Mädchen mussten sie mitschreiben, obschon sie immer noch verstört waren von dem Geschehenen. Man hätte sich gewünscht, dass mehr Rücksicht auf die besondere Situation genommen würde.
„Wir machen uns große Sorgen darüber, was es für Folgen für unsere Kinder hat“
Da es den Jugendlichen - die Mädchen gehen in die 7. Klasse, Titus in die 9. - nach wie vor schlecht geht, sie unter Weinattacken leiden, schlecht schlafen, wenn überhaupt, wären die Eltern daran interessiert, für sie psychologische Hilfe zu bekommen.
„Wir machen uns große Sorgen darüber, was es für Folgen für unsere Kinder hat, dass sie so etwas erleben mussten“, sagt eine der Mütter gegenüber der MZ. Die Kinder wüssten, dass sie Verbote übertreten hätten, dass sie Fehler gemacht hätten, für die man einstehen müsse. „Aber trotzdem brauchen sie professionelle Unterstützung, um das Ganze verarbeiten zu können.“
Auf die Eltern kommt noch die rechtliche Aufarbeitung des Unfalls zu
Dies wäre zum Beispiel beim DRK möglich, in dessen Familienberatungsstelle in der Köthener Wallstraße auch zwei Psychologinnen arbeiten. „Die Eltern“, so DRK-Chefin Jeannette Wecke, „können sich gern mit uns in Verbindung setzen.“ Für solche Fälle verfüge man über die notwendige Kompetenz.
Auf die Eltern kommt im übrigen die rechtliche Aufarbeitung des Unfalls zu. Eine der Mütter hat schon Post von der Polizei bekommen: Es geht um Hausfriedensbruch. Die Polizei Köthen hat am Donnerstag keine der Anfragen der MZ zum Unfall beantwortet; mit Verweis auf laufende Ermittlungen und das jugendliche Alter der Betroffenen. (mz)