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Literatur in Köthen Literatur in Köthen: Ein junggebliebener Löwe

Von Matthias bartl 30.03.2014, 21:05
Übervoll: Der Anna-Magdalena-Bach-Saal am Samstagnachmittag.
Übervoll: Der Anna-Magdalena-Bach-Saal am Samstagnachmittag. Rebsch Lizenz

köthen/MZ - Eine gute Viertelstunde nach dem Schlussapplaus stand Annegret Klotz mit leeren Händen da. Oder vielmehr mit leeren Kartons: 50 Bücher von Reiner Kunze hatte sie am Sonnabendnachmittag zur Lesung mit dem Dichter mitgebracht, für Besucher, die sich anschließend von Kunze ein Buch signieren lassen wollten, „aber es ist mir noch nie passiert, dass ich tatsächlich nicht ein Buch übrig behalten habe“, so die Buchhändlerin vom Holzmarkt. Da hatte beides zusammengepasst: ein interessiertes, aufgeschlossenes Publikum und ein Dichter, der nicht nur mit Reimen brillierte, sondern auch mit Geschichten zur Geschichte, mit Witz und Philosophie. Und der dem Zeitgeist die Schelle umhängte.

Reiner Kunze kann für sich in Anspruch nehmen, nie als bequem gegolten zu haben. Zu DDR-Zeiten nicht, als er sich zunehmend vom SED-Regime zu distanzieren begann, was letztlich zu Publikationsverbot und Ausreise führte, und heute nicht, wenn Kunze streitbar gegen Rechtschreibreform, Sprachschluderei und Werteverfall zu Felde zieht. Was er mit feiner Ironie und mit alttestamentarischem Anklang auch in Köthen tat, wo er eine Lanze dafür brach, Kindern vorzulesen, sie auf diesem Wege an Literatur heranzuführen, mit Sprache, Poesie, Phantasie vertraut zu machen.

"Kinder sind Kinder ihrer Zeit"

„Kinder sind Kinder ihrer Zeit - und Zeiten ändern sich“, so Kunze lakonisch, der vergleichend von Lesungen für Kinder in Niederbayern und in Namibia berichtete - hie geplagt von sich immer wiederholenden Fragen nach Verdienst, Reichtum und Autogröße, dort beeindruckt von einer Werteskala, die Großzügigkeit, Freundlichkeit und Heiterkeit an die Spitze stellte. „Für Kinder schreiben heißt, sie auf die Tragik des Lebens vorzubereiten ohne sie traurig zu machen“, so Kunzes Definition. Und dann müssen die Kinder diese Texte nur noch lesen...

Wie das aussehen kann, das Schreiben und das Vorlesen, wenn man es denn kann, das demonstrierte Reiner Kunze, Ehrenmitglied der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft, der Veranstalterin des Nachmittags, zur Freude des Publikums auf beeindruckende und familiär-persönliche Weise. Er las nicht nur aus dem Buch „Der Löwe Leopold“ und aus den Gedichten „Was macht die Biene auf dem Meer?“ Poetisches für Kinder wie für Erwachsene, sondern er ließ nach- und miterleben, wie der „Löwe Leopold“ entstand. In der Zeit der Niederschlagung des Prager Frühling, in einem Bauernhaus bei Klingenthal, wo der stasiüberwachte Dichter Kunze sich versteckte - und dort die Zeit fand, ein Buch für Kinder zu schreiben, das er „Marcela, diesem Plagegeist“ widmete. Dazu gehörten Geschichten von Stempeln, Geschichten von eingestampften 15.000 „Löwe Leopold“-Exemplaren, von einem Löwen in der Brottüte, vom Drachen Jakob. Genau betrachtet, Geschichten von der Tragik des Lebens, die man sich heute anhören konnte, ohne traurig zu werden. Und eine besondere Leseempfehlung.

Reiner Kunze spricht.
Reiner Kunze spricht.
Rebsch Lizenz