Erinnerung in Aken Erinnerung in Aken: Das Leben der "Marie-Else"

aken/MZ - Eines Tages hat sich Lisbeth Schoch hingesetzt und einfach angefangen zu schreiben. „Weil mein Neffe das wollte“, lacht die Akenerin. Der Neffe also ist Schuld, dass die 95-Jährige im hohen Alter noch zur Autorin wurde. Ihre dicht beschriebenen DIN-A4-Seiten erzählen die Geschichte des Schiffes „Marie-Else“, auf dem sie einige Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte. Es sind Lisbeth Schochs Erinnerungen an den Schleppkahn.
Aller Anfang, möchte man meinen, ist schwer. Doch das kann Lisbeth Schoch gar nicht bestätigten. „Das ging ganz flott“, erinnert sie sich an ihre schreiberischen Gehversuche im Jahr 2010. Ein paar Tage nur, dann konnte sie die Bitte des Neffen erfüllen, und Erinnerungen des Schleppkahns „Marie-Else“ aus Aken waren auf Papier gebracht. Der Neffe, klärt die Autorin auf, ist heute 77 Jahre. Sein Vater steuerte die „Marie-Else“ bis zum Schluss. Deshalb bat er die Tante, das Erlebte aufzuschreiben.
„Ich war“, beginnt ihre Geschichte, die sie im Namen des Schiffes – also in der Ich-Form – erzählt, „als Schleppkahn für die Elbe und Kanäle im Jahr 1910 auf der Schiffswerft Placke in Aken aus sehr gutem Material von tüchtigen Schiffsbauern erbaut und ein stabiler und gutaussehender Plauer Maßkahn geworden.“ Das Plauer Maß war ein standardisiertes Binnenschiff-Maß, das laut Internetlexikon Wikipedia um 1886 speziell für Teilabschnitte des Plauer Kanals (später ein Teil des Elbe-Havel-Kanals) entwickelt worden war. Das Schiff hatte, wie Lisbeth Schoch es beschreibt, eiserne Bordwände und einen zehn Zentimeter dicken Holzboden. Es war 69,97 Meter lang, 7,99 Meter breit, hatte eine Bodentiefe von 43 Zentimetern, eine Ladehöhe von 153 Zentimetern, insgesamt zehn Laderäume und sechs Anker zur Sicherheit. Die Marie-Else durfte maximal 699 Tonnen Ladung befördern. Der Akener Karl-Friedrich Müller war der erste Besitzer. 40 000 Goldmark löhnte er seinerzeit. 1930 dann erwarb Paul Fabian, der Vater der 1918 geborenen Lisbeth Schoch, die „Marie-Else“ – für 54 000 Reichsmark.
Als der Mittellandkanal bis Magdeburg gebaut wurde, habe das für ihren Vater einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung gebracht. Man gelangte so bis zur Oder; Paul Fabian und die „Marie-Else“ waren von Süd nach Nord und von Ost nach West unterwegs.
1941 ist Lisbeth Schoch besonders in Erinnerung geblieben. Da war der Schleppkahn ihres Vaters mit anderen Schiffen im Schleusengraben von Parey eingefroren. „Hinter dem hohen Deich“, formuliert sie, „fühlten wir uns sicher. Die Schneeschmelze kam und damit die Katastrophe. In Tangermünde hatte sich vor der Brücke ein Eisschutz gebildet. Die Elbe wurde so hoch aufgestaut, dass ich und die anderen Kähne mit dem Eis über den hohen Deich schwammen und in Derben auf der Wiese landeten.“ Da die „Marie-Else“ mit Brettern und somit recht gleichmäßig beladen war, hatte ihr Besitzer Glück im Unglück. Sie blieb „halbwegs ganz“. Die Ladung war gerettet. Und auf der Akener Schütze-Werft reparierte man die Schäden später.
Im März 1945 lag die „Marie-Else“ im Hamburger Kohlenhafen, als Brandbomben auf das Vorderschiff fielen und es ausbrannte. Aber: „Das Schiff“, erinnert sich Paul Fabians Tochter, „war noch fahrtüchtig. Es hatte Rohstoffe für Bitterfeld geladen.“ Bis zur Havelmündung konnte es geschleppt werden; hier war Schluss, weil die Brücke in Tangermünde schon gesprengt war. „Marie-Else“ und ihre Besatzung warteten auf das Kriegsende. Die Ladung für Bitterfeld wollte dann keiner mehr.
Ab 1954 kümmerte sich die Deutsche Schifffahrts- und Umschlagsbetriebszentrale, kurz DSU, um „allen übrig gebliebenen Schiffsraum“. Auch um die „Marie-Else“, die jetzt sogar im Interzonen-Verkehr eingesetzt wurde. Immer wenn solche Fahrten anstanden, musste der Schiffsbrief im Tresor hinterlegt werden – „wegen der Fluchtgefahr“, weiß Lisbeth Schoch.
Alle Anker wurden zu Wasser gelassen
Bei dem schweren Hochwasser im Jahr 1954 erlitt Paul Fabians Kahn schwere Schäden, weil man ihn auf Anweisung der DSU bei Torgau aus dem Hafen schleppte, wo er Schutz gesucht hatte. Am Schifffahrtszeichen zur Hafeneinfahrt verhakte sich die Schleppleine und riss, die „Marie-Else“ trieb ab. Alle Anker wurden zu Wasser gelassen, bekamen auf dem felsigen Untergrund aber keinen Halt. An einem Brückenpfeiler war Endstation. Die Wassermassen drückten das Schiff derart gegen das Bauwerk, dass die Bordwand Schaden nahm und Wasser eindrang, das aber herausgepumpt werden konnte. In Aken wurde der Kahn in der Placke-Werft an Land gehievt und wieder auf Vordermann gebracht. „Mein Besitzer und seine Ehefrau“, schreibt Lisbeth Schoch ziemlich am Ende ihrer Erinnerungen über ihre Eltern, „waren von 1930 bis 1954 auch alt geworden. Sie gingen von Bord und in den Ruhestand.“
Noch heute staunt Lisbeth Schoch, dass das Schiff am Ende gerade mal 7 000 DDR-Mark einbrachte. Nach langem Suchen hatte Paul Fabian in einer LPG bei Köthen – Genaueres weiß die Tochter nicht mehr – einen Käufer gefunden. 1964 wurde die „Marie-Else“ in ihre Einzelteile zerlegt. „Es blieb nichts von mir übrig. Nur die Erinnerung“, endet die Geschichte.

