Corona genutzt Corona genutzt: Warum Tätowierer aus Köthen säckeweise Müll aus Straßengräben holt

Köthen - Dirk Gast will irgendwann einfach nicht mehr wegschauen - und kann es auch gar nicht. Sein Tattoo-Studio in Köthen ist seit Wochen dicht. Er darf in Corona-Zeiten keine Kunden bedienen. Also sammelte er Müll. Zwischen Baasdorf und dem Kreisel an der Landkreisverwaltung.
Müll in den Straßengräben: „Mich hat das irgendwann angekotzt“
Seine Frau fährt jeden Tag nach Köthen auf Arbeit. Hin und wieder lässt er sich mitnehmen, am Studio absetzen und joggt am Abend nach Hause. Für ihn ein Ausgleich, wenn er den ganzen Tag drin sei und sich wenig bewege, sagt er. Manchmal schwingt er sich auch aufs Rad. Daher weiß er: Aus der Autofahrerperspektive sieht man nicht, was in den Gräben abseits der Straße an Müll herum liegt. „Mich hat das irgendwann angekotzt“, fasst er seinen Unmut in Worte.
Zwar würde er sich trotz Corona nicht gerade langweilen, aber so lange das Studio geschlossen ist, sei ein bisschen Luft. Zeit zum Müllsammeln. Also schnappt er sich eines Morgens ein paar stabilere Plastiksäcke - nicht die gelben, weil die zu schnell reißen würden - und Handschuhe, um sich die Sache aus der Nähe anzuschauen. „Ich hätte niemals gedacht, was da alles zusammenkommt.“
Unzählige Flaschen, acht Säcke voller Plastikmüll und ein großen Sack mit Papier
Fünf Tage lang sammelt Dirk Gast für zwei, drei Stunden lang den Müll vom Straßenrand ein, der dort achtlos entsorgt wird. Die Säcke füllen sich schneller als gedacht. Wenn einer voll ist, deponiert er ihn an Ort und Stelle und holt ihn später mit dem Auto ab. Auch die Flaschen sind ihm zu schwer zum Tragen. Weil es einfach zu viele sind.
Dirk Gast, der in Baasdorf wohnt, ist einigermaßen sprachlos, was und wie viel er im Gras abseits der Landesstraße findet: unzählige Flaschen, vor allem Weinflaschen, die dort schon Jahre gelegen haben dürften, acht Säcke voller Plastikmüll und einen großen Sack mit Papier. Ein paar Schätze sind auch darunter, schmunzelt er. Zum Beispiel ein riesengroßes Glas mit Wurstsuppe, Fischbüchsen, die er zum Teil gleich entsorgt hat, drei Porzellanteller („Warum schmeißt jemand Teller in die Landschaft?“) - und eine Plastikdose mit leckerem Inhalt.
Über das Brötchen, meint er am Rande, müsse man nicht mehr reden. Aber der Zettel, den er in der Dose findet, ist gut erhalten geblieben: „Lass es Dir schmecken, mein Schatz“, ist darauf zu erkennen, „ich liebe Dich über alles, freu mich, wenn Du wieder da bist. In Liebe, Deine Zaubermaus.“
Dirk Gast: „Fangt doch erst mal vor der eigenen Haustür an“
Von Tag zu Tag wird Dirk Gast akribischer beim Müllsammeln. Jeden Schnipsel nimmt er mit. Und fragt sich, wer eigentlich dafür zuständig ist, dass der Bereich abseits der Straße nicht vermüllt. Dass man ganz woanders ansetzen müsse, weiß er natürlich. Das Thema fängt an, ihn richtig zu ärgern. Es gäbe so viele Mitmenschen, die sich darüber aufregen, dass die Weltmeere voller Plastik sind; „fangt doch erst mal vor der eigenen Haustür an“.
Theoretisch ist die Lösung total einfach: „Wenn man den Müll gar nicht erst in freier Natur entsorgen würde.“ Praktisch sieht das ein bisschen anders aus, wie seine Streifzüge gezeigt haben. Er findet so ein Verhalten einfach unmöglich. „Das ändert aber nichts; der Müll liegt trotzdem da.“ Der Baasdorfer fände es deshalb gut und aus seiner Sicht auch zumutbar, wenn Hundebesitzer, die mit ihrem Vierbeiner Gassi gehen, oder Spaziergänger sich bückten und hier und da mal eine Plastiktüte oder Flasche mitnehmen würden, um sie zu Hause zu entsorgen.
Dirk Gast will die Baasdorfer künftig jedes Jahr zum Müllsammeln aufrufen
Er appelliert an das Umweltbewusstsein jedes Einzelnen - und an den gesunden Menschenverstand.
„Nicht quatschen, machen“, sagt er und will die Baasdorfer künftig jedes Jahr zum Müllsammeln aufrufen. Vielleicht im März, wenn das Gras noch nicht so hoch steht. Klar hoffe er, dass viele mitmachen. Und aufwachen. Spätestens wenn sie sehen, was er allein am Straßenrand aufgelesen hat. Er fürchtet, das ist nur der Anfang. Denn irgendwann hatte auch er, gibt er zu, einfach keine Lust mehr. (mz)