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Bombenangriff dauert über eine Stunde

Von MARCUS MICHEL 19.07.2009, 16:54

KÖTHEN/MZ. - Eine Ausnahme bildete das zu tragende Leid durch im Krieg Gefallene oder mit schweren Verwundungen zurückgekehrte Angehörige.

Nach dem Blitzkrieg gegen Polen und der Kriegserklärung seines Verbündeten Großbritanniens stellte sich im Herbst 1939 die erste Großmacht dem Kampf gegen das Naziregime und intensivierte in den Folgejahren ihren Luftkrieg gegen Deutschland. Die Royal Air Force legte zwei Angriffsrouten für die gefürchteten Bomber Commands über unsere Region fest. Eine Route führte in Richtung südliches Berlin, die andere überflog Anhalt, wenn die Ballungszentren der Rüstungsindustrie Leuna, Halle und Leipzig bombardiert werden sollten.

In den letzten beiden Kriegsjahren intensivierten die britische und die seit 1943 unterstützende amerikanische Luftwaffe ihre Aktivitäten. Nach dem Zusammenbruch der deutschen Flugabwehr ließen die alliierten Bombergeschwader fast täglich den Himmel über dem Kreis schwarz werden mit hunderten, ja sogar über tausend Flugzeugen. Freilich warfen die Bomber nicht ihre ganze todbringende Fracht an einer Stelle ab, sondern man flog, im Verband mit Jagdflugzeugen als Begleitschutz, innerhalb einer vorher festgelegten Flugroute mehrere Städte an. Je nach strategischer Bedeutung sowie nach Wetter- und Sichtbedingungen wurden die Abwurfgebiete in so genannte Primär- und Sekundärziele eingeteilt.

Notabwürfe bei Quellendorf

Auf einer am meisten beflogenen Linie vom Ruhrgebiet in Richtung Berlin über Hannover, Braunschweig und Magdeburg waren die Opfer und Schäden demzufolge besonders groß. Dort blieb selten ein Stein auf dem anderen. Der Krieg und das von den Deutschen in die Welt getragene Leid und Elend kam nun wieder an seinen Ausgangsort zurück. Auch die Bewohner unserer Region hatten inzwischen aufgehört, die vielen Fliegeralarme zu zählen. Bereits im Oktober 1940 wurden durch Notabwürfe von Bomben bei Quellendorf mehrere Wirtschaftsgebäude beschädigt. Wegen dichten Nebels verirrten sich im September 1941 britische Bomber und warfen Bomben auf die Anlagen der Grube "Leopold" bei Edderitz, welche zahlreiche Opfer forderten.

Im Herbst 1943 fielen nach einer Angriffswelle der Royal Air Force auf die Reichshauptstadt Berlin bei Notabwürfen Bomben auf das Dorf Libehna. Dabei wurden mehrere Häuser vollständig zerstört, zwei Dorfbewohner getötet und über zehn Einwohner schwer verletzt. Einen Tag nach dem Bombardement besuchte der damals achtjährige Zeitzeuge Georg Schuhmann aus Gölzau seine Großmutter in Libehna. "Wir haben das Chaos gesehen. Eine Sprengbombe hatte ein Haus getroffen, das gab es nicht mehr, da war nur noch ein Krater. Meine Großmutter wohnte in einer Straße, da lief Löschwasser entlang, und auf dem Löschwasser schwamm noch brennender Phosphor aus den Brandbomben. Den hatten sie nicht geschafft, vollständig abzulöschen. Selbst der Dorfteich brannte und auf ihm die Gänse. Die Oma machte im Haus ein Fenster auf und nur durch den Luftsog brannten gleich die Gardinen. Das war ein Schock für uns alle. Nun wussten wir, was Krieg bedeutet", schilderte Georg Schuhmann.

Trotz bedeutender Rüstungsfabriken, wie die Junkers Flugzeugwerke, blieben die anhaltischen Städte Bernburg, Köthen und Dessau zunächst verschont. Zum Pfingstfest am 28. Mai 1944 wurde durch die US-Air Force der erste Großangriff geflogen. Die Flugzeuge starteten von ihren ostenglischen Basen und führten 1 341 Bomber gegen ihre Ziele: die deutschen Hydrierwerke Lützkendorf, Zeitz und Leuna. Gegen zwölf Uhr wurde auch in Dessau Fliegeralarm ausgelöst. Die deutsche Luftabwehr setzte diesem Angriff 320 Jagdflugzeuge entgegen.

Es entbrannte über unserem Gebiet ein Luftkampf bislang unbekannten Ausmaßes. Um 14.17 Uhr blieben in Dessau, bei dem bisher größten Luftangriff auf eine anhaltische Stadt, viele Uhren stehen. Neben den Junkers-Werken wurden auch viele Wohnviertel getroffen. Das war die neue Taktik der Alliierten gegen den oftmals blinden Eifer und absoluten Gehorsam vieler Deutscher für die Nazi-Diktatur.

Bei einem Großangriff auf Magdeburg am 29. Juni 1944, als über 1 150 alliierte Bomber einer Flugzeugstaffel die Stadt bombardierten, sollte eine zweite Staffel mit 591 Maschinen zur selben Zeit gegen Köthen und Bernburg fliegen. Die deutsche Luftwaffe hatte diesen Angriffen nur noch wenig entgegen zu setzen und wurde stattdessen selbst zum gejagten der alliierten Jagdflugzeuge.

Schloss bekam einen Treffer

Aus unbekannten Gründen verfehlte der Verband die Stadt, aber der Angriff sollte drei Wochen später nachgeholt werden. Aus Süden kommend flogen am 20. Juli 1944 die Alliierten ihre Angriffe auf Köthen und bombardierten alles, was nach Industrie, Bahnanlagen und Fabrikgelände aussah. Während die Flugzeuge ihre Wendeschleifen für den nächsten Abwurf flogen, fielen immer wieder Bomben auf Wohnhäuser. Auch das Schloss bekam einen Treffer.

Das Bombardement dauerte über eine Stunde. Köthen erlitt dabei schwere Schäden. Die Junkers-Flugzeugmotorenwerke waren zwar das Hauptziel, aber auch Klepzig, das Bahnhofsgelände, die Maschinenfabrik Paschen oder der Reise- und Omnibusbetrieb Take in der Dessauer Straße wurden schwer getroffen. Der im Vorjahr vom Nazi-Propagandaminister Goebbels unter Beifall tausender Zuschauer im Berliner Sportpalast proklamierte "Totale Krieg" kostete allein bei diesem Bombenangriff auf Köthen 71 deutschen und 16 ausländischen Einwohnern das Leben. 123 Deutsche und 67 Zwangsarbeiter erlitten teils schwere Verletzungen. Neben den Schäden an Industrieanlagen wurden 36 Wohnhäuser zerstört und weitere 95 Wohnhäuser beschädigt.

Eine zweite Angriffswelle mit 1 025 Bombern forderte am 16. August 1944 wiederum viele Tote und Verletzte sowie Zerstörungen an Wohnhäusern der Stadt. Dieser nur wenige Minuten dauernde Luftangriff galt dem bereits schon schwer getroffenen Gelände der Junkers-Motorenwerke.

Einen großen Anteil am Luftkrieg über Deutschland hatten die amerikanischen Bomber B-17 Flying Fortress. Die so genannte "Fliegende Festung" wurde von Boeing produziert und galt als der leistungsstärkste Bomber der USA. Die viermotorigen Maschinen mit 13 Maschinengewehren und maximal sechs Tonnen Bombenlast waren dafür bekannt, trotz schwerer Schäden die Besatzung sicher nach Hause zu bringen.

Bomber bei Gnetsch abgeschossen

Während eines Luftangriffs wurde eine dieser Maschinen von der deutschen Flugabwehr getroffen und stürzte nahe dem Dorf Gnetsch auf einen Acker ab. Von den neun Männern Besatzung konnten sich nur vier Crewmitglieder mit dem Fallschirm retten. Einer von ihnen wurde durch im Dorf untergebrachte Wehrmachtsoffiziere auf der Flucht erschossen, die anderen festgenommen und in ein Kriegsgefangenenlager gebracht. Ihre beim Absturz getöteten Kameraden wurden auf dem Gnetscher Friedhof begraben. Nach dem Einmarsch der 3. US-Panzerdivision in Köthen und den Dörfern des Landkreises im April 1945 wurden die Getöteten exhumiert und in ihre Heimat überführt.