Anhalt-Bitterfeld Anhalt-Bitterfeld: Ehemalige Orbita-Mitarbeiter blättern in der Vergangenheit
KÖTHEN/MZ. - Das Tagebuch, das vor der Köthenerin Karin Melzer liegt, ist kein Geheimnis. Im Gegenteil: Die 64-Jährige hat es extra zum Durchstöbern für ihre ehemaligen Kollegen mitgebracht, um sich an die gemeinsame Vergangenheit an der einstigen Betriebsschule Orbitaplast in Weißandt-Gölzau zu erinnern.
"Damals musste Tagebuch geführt werden", erinnert sie sich. Und zwar ein Brigadetagebuch. In der vergangenen Woche - zum mittlerweile 100. Treffen der ehemaligen Lehrkräfte - hat Karin Melzer das 42 Jahre alte Schriftstück wieder ausgekramt.
Bei ihren Kollegen wird da so manche Erinnerung wieder wach: "Ein paar Schüler haben uns die tollsten Geschichten auftischen wollen", weiß Lehrer Peter Peuker noch genau, der 20 Jahre lang die Facharbeiter für Plaste und Elaste in der Praxis ausbildete. So sei eine Schülerin montags einfach nicht zum Unterricht erschienen und habe am Dienstag behauptet: "Gestern war doch erst Sonntag."
Im Großen und Ganzen sei das Verhältnis zu den Schülern immer gut gewesen, erzählt Theorie-Lehrerin Karin Melzer. Zu vielen hätten sie heute noch Kontakt, würden von ehemaligen Auszubildenden auf der Straße angesprochen. "Bei uns ist eben damals mit dem Klingelzeichen nicht der Hammer gefallen. Wir haben uns auch nach dem Unterricht um die Schüler gekümmert."
Aber vor allem die Beziehung untereinander beschreiben die Kollegen als einzigartig - damals wie heute. "Was wir da haben, müssen wir uns erhalten. Das, was früher das Kollektiv war und heute Team heißt, sind wir schon immer gewesen", ergänzt der ehemalige Leiter des Lehrlingwohnheims Wolfgang Rosengard. Deshalb treffen sie sich - um die 20 Lehrer sind es heute noch - im Abstand von fünf bis sechs Wochen seit etwa 18 Jahren. Bis zur Wende haben die insgesamt 80 Kollegen damals junge Leute in Theorie und Praxis zu Plastfacharbeitern, Werkzeugmachern, Mess- und Regelungstechnikern sowie Instandhaltungsmechanikern ausgebildet.
"Mit dem Schulbus ging es - auch für die Lehrer - nach Gölzau. Jeden Tag 7.10 Uhr hin und 14.40 Uhr wieder heim", erinnert sich Karin Melzer noch. Auch die zahlreichen Besuche im Ferienlager auf der Insel Rügen sind ihr noch im Gedächtnis: "Zwei Wochen Aufenthalt, inklusive Fahrt und Essen haben damals 40 Mark gekostet. Das ist heute unvorstellbar."
Solche Geschichten sind es, die Karin Melzer und zwei ihrer Kolleginnen sorgfältig in das Brigadebuch geschrieben haben. Fotos von Sportfesten, Artikel der Betriebszeitung und Kurzbiografien zu jedem Lehrer sind darin zu finden. "Es wurde extra von einem Kunstbuchbinder angefertigt. Das war schon was besonderes für damalige Verhältnisse", so die Fachkundelehrerin.
Mindestens genauso ordentlich und aufmerksam pflegt die Lehrerin nun das Buch, das dokumentiert, wer an den regelmäßigen Treffen der ehemaligen Orbita-Mitarbeiter in Köthen teilnimmt und wer nicht. "Ich kontrolliere dann die Anwesenheit. Und wer dreimal unentschuldigt fehlt, dessen Eltern bekommen einen Brief", schmunzelt Karin Melzer. Sie sei eben Lehrerin - durch und durch.