Gedenkstätte KZ Lichtenburg Gedenkstätte KZ Lichtenburg : Dickes Buch der Prettiner

Prettin - In den großen Raum der KZ-Gedenkstätte Lichtenburg, der die Dauerausstellung beherbergt, müssen am Montagabend mehr Stühle gestellt werden, als ursprünglich erwartet. Nicole Hördler präsentiert ihr Buch „Prettin liegt in Deutschland - Stadt und Land zwischen Aufbruch, Resignation und Identitätssuche, 1990 bis 2010“, eine aktualisierte Fassung ihrer Doktor-Arbeit von 2012. Und das lockt zahlreiche Interessierte an, vor allem Prettiner und andere in die Entstehungsgeschichte dieser ethnologischen Feldstudie Involvierte. Insgesamt zählt die Runde etwa 80 Leute.
Einheimische und Auswärtige erfahren etwas, zum Teil Überraschendes, über Prettin und die Prettiner in der Wende- und Nachwendezeit - wissenschaftlich und vergleichend aufbereitet. Die wichtigste Grundlage für die Dissertation von Nicole Hördler bildete ein vielgliedriges Fragebogen-Paket, das sie im November 2010 unter die Einwohner der kleinen Elbestadt brachte. Sie spricht von knapp 1 000 solcher Formulare. 221, also rund ein Viertel davon, fanden ausgefüllt den Weg aus Prettiner Haushalten zu ihr zurück und bildeten die Basis für die statistische Aufbereitung.
Die Palette der 35 Fragen reichte von der Lebensdauer in Prettin und verschiedenen persönlichen sozialen und wirtschaftlichen Aspekten der Umbruchszeit (rückblickend betrachtet) über die heutige Lebenssituation, die Jahrhundertflut 2002 und die Eingemeindung nach Annaburg bis hin zur Bindung an den Heimatort und die Region mit diesbezüglichen positiven und negativen Aspekten.
Viele persönliche Kontakte
Außerdem flossen in die Studie Hintergrund-Informationen ein, welche die junge Frau während ihrer ausgedehnten Prettin-Aufenthalte bei wiederkehrenden persönlichen Kontakten zu wichtigen mit dem Ort, seiner reichen Historie und der Region bestens vertrauten Zeitzeugen gewinnen konnte. Neben Ortsbürgermeisterin Helga Welz (parteilos) erwähnt sie da am Montag exemplarisch ihre „Gasteltern“, den Hobby-Heimatkundler Bernd und seine Frau Sibylle Steinland, die sie in weitere geschichts- und gesellschaftspolitisch interessierte Kreise Prettins einführten. „So haben sich viele Leute gedacht, die ist vielleicht gar nicht so doof, mit der kann man reden“, beschreibt sie salopp und dankbar deren Rolle als Türöffner.
Ihren Vortrag beginnt Nicole Hördler mit der Ortsschild-Anekdote. Von dem Prettiner Schild ist nämlich bis heute die Zuordnung „Stadt Annaburg“ weggekratzt. Das sei sicher als symptomatisch anzusehen für die Veränderungen, die Prettin nach der Wiedervereinigung durchlebte, und den Umgang der Menschen damit, wertet sie diesen Fakt.
Aber nicht nur mit der Bindung an die Stadt Annaburg haben die Prettiner so ihre Probleme, auch die Identifikation mit dem Land Sachsen-Anhalt ist gering ausgeprägt. So fühlen sich zwar beinahe 90 Prozent der Befragten eng mit Prettin verbunden, fast 80 Prozent äußern dies im Bezug auf Deutschland, aber nur rund 35 Prozent, wenn es um Sachsen-Anhalt geht. Europa steht da mit knapp 35 Prozent ebenso hoch im Kurs. Das hält die 34-Jährige für bemerkenswert. Dasselbe trifft auf die Zukunftserwartungen zu, welche die Prettiner 1989 bewegten. Es ergibt sich ein ambivalentes Bild: Etwa zwei Drittel hegten große Hoffnungen. Beinahe so viele waren aber auch von erheblichen Sorgen geplagt.
Einschnitt Elbeflut 2002
Existenzielle Ängste bescherte die 2002er Elbeflut 87 Prozent der Betroffenen. Auch über 43 Prozent jener Prettiner, die verschont blieben, äußerten Ängste. Von der Stadtverwaltung gut betreut fühlten sich in diesen schweren Tagen sowohl Betroffene (über 73 Prozent) als auch Nichtbetroffene (fast 51 Prozent). Mehrheitlich wird zudem ein Erstarken des Gemeinschaftsgefühls in Prettin konstatiert, zu 70 Prozent bei den Flutbe-troffenen und zu über 67 Prozent bei allen anderen. Dass mit der Flutschadensbeseitigung ein Anschub für Prettins Entwicklung einherging, bejahten gut 72 Prozent der Betroffenen und sogar 82 Prozent der Nichtbetroffenen. Damit seien nur einige Aspekte aufgeführt, die in dem Buch eine Rolle spielen, über das Nicole Hördler an die Prettiner gerichtet sagt: „Es ist Ihr Buch. Es sollte ein Standardwerk in Ihrem Bücherregal sein.“
Entsprechend groß ist auch die Nachfrage beim Buchverkauf. Die seitens des Verlags mitgebrachten Exemplare reichen nicht aus. Es muss eine lange Bestellliste angelegt werden.
An die Buch-Präsentation schließt sich am Montag eine Gesprächsrunde an. Sigrid Jacobeit von der Berliner Humboldt-Uni, eine der Doktor-Mütter Hördlers, nutzt sie, um öffentlich zu machen, dass ihr Schützling 2015 vom Metropol Verlag Berlin, der die Dissertation gedruckt hat, zur Autorin des Jahres gekürt wurde. Außerdem lobt die Professorin stolz die verständliche Sprache, in der Hördler ihre Abhandlung verfasste. (mz)

