Gedenken an Todesmarsch Gedenken an Todesmarsch : In die Kirche getrieben

Jessen/Arnsdorf - Die Interessengemeinschaft Todesmärsche aus dem Harz kommt voran mit ihren Nachforschungen zu den letzten Tagen des Zuges von KZ-Häftlingen aus Langenstein-Zwieberge, Außenlager von Buchenwald. Dieses traurige Kapitel am Ende des Zweiten Weltkriegs spielte vor allem im Jessener Land. Im Nachgang zum jüngsten Ehrenbuch-Eintrag für Gertrud Döbelt - die Jessenerin hatte einen KZ-Häftling versteckt, der auf den Oberbergen geflüchtet war - stellte Erhard Fritzsche aus Jessen, Vorsitzender des Heimatvereins Glücksburger Heide, den Kontakt zu Hans Kampfhenkel aus der Elsterstadt her.
Der wiederum war Zeitzeuge, wie Personen besagten Todesmarsches in der zweiten April-Hälfte 1945 von der SS zum Übernachten ins Schiff der Stadtkirche St. Nikolai getrieben wurden.
Geräusch von Holzpantinen
Im Gespräch mit der MZ berichtete Hans Kampfhenkel, Jahrgang 1935, daraufhin: Er habe das Bild der Häftlingskolonne, bewacht von der schwarzen SS, noch vor Augen.
„Ich war zehn Jahre alt. Mein Elternhaus befand sich im Höfchen. Wir, fünf oder sechs Kinder, spielten in der Weberstraße. Vereinzelt waren Schüsse zu hören. Wir haben uns darüber aber keinen Kopf gemacht, es knallte damals öfter mal. Doch dann hörten wir ein eigenartiges Geräusch. Wir rannten vor zum ,Weißen Schwan’. Das Geräusch kam von den Holzpantinen der Häftlinge, die an uns vorüber zogen. Diese Menschen waren am Ende, völlig ausgehungert.“ Hans Kampfhenkel spricht von mehreren Hundert Menschen. „Sie hatten sich Knüppel gesucht, um sich abzustützen.“ Diese mussten die Häftlinge vor der Kirche ablegen, als sie hineingetrieben wurden. „Die Knüppel lagen links und rechts der Kirchentür. Die zwei Berge sehe ich heute noch.“
Die nächste Exkursion der im Harz ansässigen Interessengemeinschaft Todesmärsche auf den Spuren des Zuges von KZ-Häftlingen aus Langenstein-Zwieberge, Außenlager des KZ Buchenwald, im April 1945 führt erneut durch das Jessener Land. Wie von Ellen Fauser aus Halberstadt, der Vorsitzenden der IG, zu erfahren war, startet die Exkursion, zu der alle Geschichtsinteressierten aus nah und fern herzlich eingeladen sind, bereits am bevorstehenden Samstag, 27. Oktober, um 10 Uhr auf dem Jessener Marktplatz, vor der Stadtkirche St. Nikolai. Die Route verläuft dann über Rehain, Ruhlsdorf, Gentha und Lüttchenseyda nach Meltendorf.
Dietmar Steinecker aus Gentha hat sich angeboten, die Truppe zu führen. Beim jüngsten Ehrenbuch-Eintrag für Gertrud Döbelt in Jessen, die 1945 einem KZ-Häftling geholfen hatte, wurden auch Manfred Höhne aus Arnsdorf und Erhard Fritzsche als Zeitzeugen zu der Exkursion eingeladen.
Der folgende Tag, so der Zeitzeuge, sei zu einem der wichtigsten in seinem Leben geworden. Auf dem Weg zur Schule traf er am Rathaus zwei, drei SS-Leute mit sechs, sieben Häftlingen. „Sattlermeister Träger brachte ihnen ein paar Stullen. Sie haben sich um das Brot geschlagen und die Krumen aus den Pfützen gefischt. Das war für uns Kinder sehr verwunderlich.“
Noch härter wurde es am Nachmittag. Hans Kampfhenkel und andere Kinder spielten im Höfchen. Da trieben zwei einheimische Polizisten mit umgehangenem Karabiner zwei Häftlinge, die in einer fremden Sprache miteinander redeten, vor sich her über den Elsterdamm. „Hinter dem Damm waren zwei Schüsse zu hören. Wir Kinder sind hingelaufen. Die beiden Polizisten haben ihre Gewehre geschultert und die Häftlinge, junge Kerle von 19 oder 20 Jahren, in ihrem Blut liegen lassen.“
Hans Kampfhenkel: „Ich stand unter Schock, ich habe am ganzen Körper gezittert.“ Sein Vater, so der heute 83-Jährige, habe, um eine Erklärung für das schreckliche Ereignis zu liefern und ihn zu beruhigen, zu einer Notlüge gegriffen: „Das waren Schwerverbrecher.“
Die russische Militärpolizei brachte später die Namen der beiden Polizisten in Erfahrung, so Hans Kampfhenkel. „Sie kamen sieben oder acht Jahre ins Gefängnis.“ Ihn verfolgt diese Erschießung bis heute, wie er sagt. Und sie hatte Auswirkungen auf sein weiteres Leben: „Damals begann mein selbstständiges politisches Denken. Mit zwölf bin ich in die Antifa gegangen.“
Bereits beim Ehrenbuch-Eintrag für Gertrud Döbelt im Ratssaal vom Jessener Schloss - mit der Aufnahme ins Ehrenbuch Zivilcourage der IG Todesmärsche werden Menschen gewürdigt, die KZ-Häftlingen zu Hilfe kamen - hatten Erhard Fritzsche, er verbrachte seine Kindheit und Jugend in Arnsdorf, sowie der Arnsdorfer Manfred Höhne von Ereignissen aus ihrem Heimatort berichtet, die in unmittelbarem Zusammenhang standen mit dem Todesmarsch.
Erhard Fritzsche war zu jener Zeit acht Jahre. „Ich habe selbst einen der KZ-Häftlinge nach Arnsdorf hineinwanken sehen“, erinnert sich der 1937 Geborene. Der Mann müsse wohl zur Gruppe gehört haben, die auf den Arnsdorfer Bergen im Wald genächtigt hatte. Die Arnsdorfer Berge waren nach Jessen die nächste Station des Todesmarsches. In Arnsdorf, so schildern Erhard Fritzsche und Manfred Höhne, seien es insgesamt vielleicht noch hundert Häftlinge des in der Auflösung begriffenen Zuges gewesen.
Ins Spritzenhaus gesperrt
Drei bis fünf von ihnen waren nachts ins Arnsdorfer Spritzenhaus gesperrt worden - entweder von der SS oder von fanatischen Einwohnern, die sie irgendwo aufgegriffen hatten, vermuten die beiden Zeitzeugen. Nachdem, so werde erzählt, ein Junge auf dem Weg zur Schule die Häftlinge im verschlossenen Spritzenhaus wahrgenommen hatte, sei von verschiedenen Arnsdorfern eine Essenversorgung für die ausgehungerten Männer organisiert worden.
„1945 war ein sehr trockenes Jahr, es gab nur eine schlechte Ernte“, gehen die Gedanken von Erhard Fritzsche und Manfred Höhne zurück. „Das Wenige musste reichen für die eigenen Leute, die Städter, die sich auf dem Land versorgten, die Flüchtlinge und die Häftlinge.“
Ellen Fauser aus Halberstadt, Vorsitzende der IG Todesmärsche, ist bei ihren Recherchen zudem auf ein Jessener Dokument aus dem Jahr 1947 gestoßen. Darin wird auf einen überlebenden Häftling mit Namen Lion Braun hingewiesen. Er soll nach Kriegsende hier geblieben sein und mit Familie auf den Arnsdorfer Bergen gelebt haben. Das konnten aber weder Erhard Fritzsche noch Manfred Höhne aus ihrer Erinnerung bestätigen. (mz)