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Erlebnisbericht Erlebnisbericht: Hartes Leben im Schatten der Burg

07.05.2003, 15:44

Prettin/MZ. - Wir hatten am Sonntag nach Hitlers Geburtstag (20. April 1945 - die Red.) auf Geheiß des Prettiner Stadtkommandanten Koch mit drei Gespannen unser Gehöft in Lichtenburg verlassen, und uns in die Flüchtlingsschlange Richtung Elbe eingereiht. Dort hatte die Wehrmacht eine Pontonbrücke errichtet, über die nun die zigtausend Flüchtlinge westwärts strebten. Das Ziel war die Mulde. Am 25. April 1945 hatten sich 20 Kilometer elbaufwärts von Prettin auf einer Elbwiese vor Torgau die Westalliierten mit der Sowjetarmee getroffen.

Mit Rücksicht auf die sechs Pferde und die verstopften Straßen ging es nur langsam voran. Immer mehr erschöpfte Prettiner, die mit Handwagen unterwegs waren, baten, von uns ins Schlepptau genommen zu werden. Die Handwagen wurden angehängt, sechs an jeden der drei Wagen. Die Erwachsenen mussten laufen, die Kinder kamen auf unsere Wagen. Da das Pferdefutter täglich weniger wurde, ging das. Als wir Söllichau erreichten, hieß es: Übertritt über die Mulde nur mit Handgepäck. Das kam für uns wegen der Pferde nicht in Frage. Sie waren für uns nicht nur Nutztiere, sondern auch Hausgenossen.

Als die Amerikaner und Russen gemeinsam auf Panzern sitzend Söllichau durchfuhren, war allen klar, dieses Gebiet würde russisch. Die Rückfahrt begann. Wir kamen bis Trossin und durften beim Bauern Hildebrand Quartier nehmen. Mein Vater schlief bei den Pferden in der Scheune, meine Mutter, meine Schwester und ich schliefen in einem Bett im Haus. Dann zogen russische Truppen durch Trossin. Sie waren vom Kampf um Berlin abgezogen worden und sollten in Tschechien den letzten deutschen Widerstand (SS-Truppe Schörner) bekämpfen. Immer wenn die Kolonne stockte, sprangen die Soldaten von ihren Fahrzeugen, drangen in die Häuser und Gehöfte ein, um zu plündern. Unsere sechs Pferde wurden innerhalb von einer Stunde abgeführt. Nur das Fohlen und die Ackerwagen blieben zurück.

Meine Schwester und ich schliefen im Wald, da immer noch Truppen durchzogen und ihr Unwesen trieben. An einem Montag gingen Liesbeth Henze und unsere Bäckerfrau Else Wiegang zu Fuß nach Hause. Sie kamen zurück, um ihre Handwagen zu holen, und ich schloss mich ihnen mit dem Käte-Kruse-Puppenkarton unterm Arm an. Wir erreichten Lichtenburg vor der Ausgangssperre, also vor 19 Uhr. Vorsichtshalber sollte ich wegen der aus der Lichtenburg ausströmenden sowjetischen Soldaten mit nach Hintersee gehen. Als aber unser Hund Rolli, der am Hoftor saß, auf mich zugesprungen kam, folgte ich ihm ins Haus.

Es folgten furchtbare Wochen. Wir schliefen in der Kleidung, um jeder Zeit über unsere Fluchtwege unseren Schlupfwinkel erreichen zu können. Stets hat unsere Mutter, ohne Gebiss, mit hängendem Zopf und auf schlampig gemacht, sich den eingedrungenen Russen entgegengestellt, herumgekeift und uns so genügend Zeit zur Flucht verschafft. Dadurch gehörten wir zu den glücklichen, die diese Zeit ohne Vergewaltigung überstanden haben.

Diese schlimme Zeit dauerte bis Ende Mai 1945. Dann plötzlich kam ein Aufbruch. Die Sowjets verließen die Elbe-Mulde-Grenze, um die in Jalta festgelegte Grenze am 1. Juli 1945 einzunehmen, die spätere Zonen- bzw. DDR-Grenze. Wir dachten, es gäbe nun Luft und Ruhe, doch da zog ein sowjetischer Militärstab von sieben Personen zu uns ins Haus und belegte vier Zimmer. Dieser Stab hatte die Aufgabe, die inzwischen von den Amerikanern ausgelieferten Wlassow-Soldaten abzuurteilen. Die Wlassow-Soldaten hatten sich vor den Sowjets über die Mulde geflüchtet und den Amerikanern ergeben. Sie waren in die Lichtenburg überstellt worden. Der Leiter des bei uns wohnenden Stabes amtierte tagsüber in der Lichtenburg, ein anderer Stab, der im Hause Stephan wohnte, verurteilte nachts. Für uns, die wir den Zweck dieser Tätigkeit erfahren hatten, war die seelische Belastung riesengroß. Den russischen Soldaten, die auf deutscher Seite gekämpft haben, gewährten die Sowjets kein Pardon.

Die Angst wuchs noch vor diesen mächtigen Leuten, als sie sich unseren Vater nachts mit gezogener Pistole zum Verhör holten. Der Grund dazu war folgender: Die Lichtenburg war von 1940 bis 45 SS-Hautzeugamt und SS-Versorgungslager. Dort lagerten Waren für einige Millionen Reichsmark. Beim Rückzug der deutschen Truppen waren auch Waren aus anderen Lagern, wie Lebensmittel, Stoffe, Schuhe usw. dort geräumt und hierher gebracht worden. In der Zeit, in der sich 95 Prozent der Bevölkerung von Prettin auf dem Treck zwischen Elbe und Mulde befanden, haben Prettiner dort Plünderungen vorgenommen.

Das Verhör meines Vaters befasste sich mit unserer Vergangenheit während des Dritten Reiches, bis schließlich der wahre Grund meinem Vater erkennbar wurde. Er sollte verraten, wer sich von den Prettinern in Besitz solcher Waren gebracht hatte. Das hatte sich natürlich rumgesprochen. Er erklärte, dass er dazu keine Angaben machen könne, er sei in besagter Zeit nicht im Ort gewesen. Dabei blieb er auch, als man androhte, am nächsten Tag Mutti und uns Töchter verhören zu wollen.

Der folgende Tag war fürchterlich. Wir hatten Anweisung, das Haus nicht zu verlassen, um für das Verhör bereit zu stehen. Als sich bis mittags nichts dergleichen ereignete, trat meine Mutter in Aktion. Sie klopfte an, als der Stab zu Tische saß und frage, wann das Verhör beginnen würde. Schließlich hätten wir in der Landwirtschaft viel Arbeit.

Der Dolmetscher winkte ab. Es hätte sich erledigt. Der Stab blieb zwei bis drei Wochen. Man hörte, dass die Wlassow-Soldaten nach Torgau gebracht wurden. Dort sollen die geschlossenen Waggons in der Augustsonne noch tagelang auf den Gleisen gestanden haben, so dass die Brühe unten austrat.

1945 wurde der gesamte Herdbuch-Rinderbestand des Hofes durch die Russen weggetrieben. Anfang der fünfziger Jahre war alles wieder aufgebaut. Dann setzten Repressalien zur Zwangskollektivierung mit großer Intensität ein. Unsere Familie wurde zur Republikflucht getrieben und verließ den Hof für immer.

Als ich nach der Wende zum ersten Mal die Gedenkstätte Lichtenburg besuchte und nichts über die Wlassows fand, schrieb ich etwas ins Gästebuch. Ich äußerte meine Verwunderung darüber, dass immer noch darüber geschwiegen wird, was damals vor sich gegangen war.