Ein Bürgerkindergarten in Annaburg nach Fröbels Idee
ANNABURG/MZ. - Dabei sah es einmal ganz anders in Deutschland aus. Deutsche Pädagogen haben früher Bildungsgeschichte geschrieben. Im 19. Jahrhundert halfen auch Bürger aus Annaburg namhaften Pädagogen und trugen zu ihrem Erfolg bei. Einer davon hieß Leonhard Woepcke, der als Schlossprediger und Schulinspektor am Militär-Knaben-Erziehungsinstitut (MKI) in Annaburg tätig war.
Leonhard Woepcke war als Geistlicher am Institut (1843 - 1852) Leiter des Schul- und Unterrichtswesens sowie verantwortlich für die Erziehung der jüngeren Zöglinge. Er gehörte dem Bildungsbürgertum an und vertrat zur damaligen Zeit sehr fortschriftliche pädagogische Ansichten, die er bei seiner Arbeit am MKI auch umsetzte. Damit führte er die anspruchsvolle Bildungs- und Erziehungsarbeit, die mit seinen Vorgängern Anfang des 19. Jahrhunderts begann, fort. Das Militär-Knaben-Erziehungsinstitut entsprach "mehr (einer) Bürgerschule als einer Militärschule", wie ihm ein preußischer Inspektionsbericht aus dem Jahre 1816 bescheinigte. Die Bildung und Erziehung erfolgte durch junge Lehrkräfte. Jung waren sie schon deshalb, weil ihr Gehalt am MKI sie kaum in die Lage versetzte, eine Familie standesgemäß zu unterhalten. Es wurde auf künstlerische und naturwissenschaftliche Kenntnisse sowie auf sportliche Betätigung der Zöglinge großer Wert gelegt. So erfolgte der Turnunterricht, abgehalten durch Oberlehrer Siegel, nach den fortschrittlichen Prinzipien von Turnvater Jahn. Die Jahnschen turnerischen Ideen mitsamt ihrem Erziehungsprogramm, welche erstmals 1810 auf der Berliner Hasenheide der Öffentlichkeit vorgestellte wurden, fanden hier in Annaburg vollste Anwendung. Der Unterricht wurde insgesamt anschaulich, praxisnah und bereits teilweise durch Fachlehrer durchgeführt.
Eine "Kinderpflegeanstalt"
Leonhard Woepcke stand in dieser Zeit (1845 - 1851) in regem Briefkontakt mit Friedrich Wilhelm August Fröbel (21. April 1782 bis 21. Juni 1852), dem deutschen Pädagogen, der als Begründer des "Kindergartens" als Einrichtungen zur Kinderbetreuung in Deutschland gilt. Fröbel begab sich damals auf Vortragsreisen durch Deutschland, um seiner Kindergartenidee den Weg zu bereiten. Neben Darmstadt und Dresden war 1845 Annaburg eine seiner Stationen. Er folgte hier der Einladung von Leonhard Woepcke und war vom 26. November bis zum 18. Dezember 1845 zu Gast. Friedrich Fröbel nutzte seinen Aufenthalt in der Stadt, um beim Militärknaben-Erziehungs-Institut Erfahrungen in der praktischen Lehrarbeit zu sammeln. So verfolgte er mit regem Interesse die Ausbildung an der Musikschule, genauso wie den Sportunterricht durch den Turnlehrer Siegel. Aber auch bei seiner Kindergartenidee konnte Leonhard Woepcke helfen. Dank seiner Vermittlung wurde das Interesse beim evangelischen Ortspfarrer Dr. Seyler und der Annaburger Bürgerschaft geweckt. So wurde Fröbel kurz vor seiner Abreise am 14. Dezember 1845 von Dr. Seyler über den Beschluss des Orts- und Kirchenvorstandes in Annaburg, eine "Kinderpflegeanstalt" zu gründen, informiert. Er erhielt den Auftrag, die Annaburgerin Anna Hesse "zur Führerin des . angebahnten Kindergartens ausbilden zu lassen". Anna Hesse war zu dieser Zeit 16 Jahre alt. Später einmal schreibt Fröbel über sie: "Anna Hesse - eine meiner ältesten, d.h. frühesten Kindergärtnerinnen vom Jahr 1845 / 46 und zugleich eine meiner erfahrendsten, denn sie wurde unmittelbar nach Beendigung des Kursus 1846 sogleich Kindergärtnerin in Annaburg bei Torgau". Sie begann den Kindergärtnerinnenkurs bei Fröbel in Keilhau gleich nach Neujahr 1846 und schloss diese Ausbildung im Juli ab. Ab August leitete sie den ersten Bürgerkindergarten in Annaburg mit circa 30 Kindern aus begüterten Verhältnissen. Für andere Kinder zahlten Annaburger Bürger, wie Oberlehrer Siegel, Woepcke oder der Apotheker Violett selbstlos die Kindergartenbeiträge. Als Örtlichkeit diente vermutlich das ehemalige Schulgebäude links neben dem Pfarrhaus. In diesem Bürgerkindergarten ging es aber nicht um die Ganztagsbetreuung für arbeitende Eltern, sondern in erster Linie um die Vermittlung kindgerechter Bildungsinhalte im Vorschulalter. Durch Spielen lernen, dass war der Hauptzweck dieser Einrichtung. Noch einmal 1846 verweilte Friedrich Fröbel auf seiner "Sommerreise" (Juli bis August 1846) kurzzeitig in Annaburg, er war zu Gast bei Leonard Woepcke. Auf Anregung von ihm nannte er ab 1846 seine Kinderverwahranstalten dann auch "Kindergarten". Er schrieb deswegen an Woepcke: "Was Sie mir selbst über die bestimmte und bleibende Annahme des Namens ,Kindergarten' schreiben, freut mich; denn immer mehr muss ich die Erfahrung machen, dass der Name nicht gleichgültig ist, auch dieser." In seinen Briefen erkundigt er sich immer wieder nach Anna Hesse und dem Kindergarten in Annaburg. Anna Hesse leitete diese Einrichtung bis 1850 und ging dann aufgrund der Vermittlung Friedrich Fröbels nach Hamburg. Hier wurde sie mit der Leitung des ersten Bürgerkindergartens der Hansestadt betraut. Später heiratete sie den preußischen Artillerieoffizier und Mediziner Doenau und folgte ihm nach Australien. Aus dieser Verbindung gingen dort neun Kinder hervor. Anna Doenau, geborene Hesse, starb 1912 im Alter von 83 Jahren. Sie war die erste Annaburgerin, die einen bürgerlichen Beruf ausübte und damit ihren Lebensunterhalt selbst bestritt.
1851 geschlossen
Staatliche Willkür setzte dem Bürgerkindergarten in Annaburg ein vorzeitiges Ende. Mit dem Ministerialen Verbot aller Kindergärten in Preußen vom 7. August 1851 musste er geschlossen werden. Ein Kindergarten in Annaburg entstand erst im nächsten Jahrhundert wieder. Diesmal nicht als Bürgerkindergarten, sondern weil die Arbeitskräftesituation in der Steingut-Fabrik nur durch eine "Spielschule" (Kindergarten) gelöst werden konnte. Um 1900 expandierte dieses Unternehmen, wobei die zumeist weiblichen Arbeitskräfte nach dem ersten Kind in der Fabrik aufhören mussten, weil sie niemanden zur Kinderbetreuung hatten. Damit gingen dem Werk gerade die gut ausgebildeten Kräfte verloren. Um den Müttern das Weiterarbeiten im Werk zu ermöglichen, wurde durch die Steingut-Fabrik die "Spielschule" eröffnet.
Eigentlich könnte Fröbel an der heutigen Bildungsdebatte mit seinen Worten aus dem Jahre 1822 durchaus teilnehmen, denn er sagte: "Darum Ihr Männer, die Ihr eine bessere Zeit wünscht: im Herzen, in den Menschen selbst liegt ihr Heil. Bewahrt die heraufwachsende Jugend vor leerer Nichtigkeit, vor Arbeitsscheu, vor Grübeleien ohne Tat und vor mechanischem Handeln ohne Nachdenken. Führt sie dadurch zurück von dem unseligen Hang nach Äußerlichkeit und verderblicher Zerstreuungssucht. Tätigkeitssinn und Arbeitslust, Entwickeln, Ausbilden und Erkennen, Gebrauchen der von Gott gegebenen Geisteskräfte und Anlagen - diesen Sinn müsst Ihr auf das heranwachsende Geschlecht übertragen, wollt Ihr Euren Wunsch erfüllt sehen." An anderer Stelle ist aus dem Jahre 1847 vermerkt: "Da ist ein Klagen um Mangel der Geldmittel in den Kassen der Privaten, wie in öffentlichen Kassen, in beiden noch als Folge der Teuerung, wie in den letzteren besonders bei Magistraten wegen anderer öffentlicher Bauten, dass man, wie ich sage, in die Erde versinken möchte."
Quellen: Briefwechsel Fröbels mit Woepcke unter www.bbf.dipf.de/editionen/froebel
, Gründler, E.: "Schloß Annaburg" Festschrift zur einhundertfünfzig-jährigen Jubelfeier des Militär-Knaben-Instituts zu Annaburg, Verlag von Oscar Haebringer, Berlin 1888, Zimmermann, B., Rezension i. S. Pädagogik zur "Geschichte des kurfürstlich Sächsischen Erziehungsinstituts für Soldaten-Knaben evangelischer und katholischer Religion zu Annaburg, ein Versuch von Wilhelm Christian Gottlob Weise, evangelischer Prediger und Lehrer daselbst" in Allgemeine Literaturzeitung (ALZ) Wittenberg, Oktober 1805