Von Bahnknoten bis Stuttgart 21 Wie TimeLEAN aus Halle Deutschlands Bahnprojekte effizienter macht
Tobias Richter saß vor einem Berg bunter Zettel, als ihm klar wurde: So geht das nicht weiter. Heute steuert er mit seiner Software TimeLEAN Großprojekte wie Stuttgart 21 – und setzt dabei auf Prinzipien des Lean Managements. Wie das Start-up aus Halle zu einem gefragten Partner der Deutschen Bahn wurde.

Halle/MZ. - Die Idee zu seiner Software hatte Tobias Richter, als er vor etwa zehn Jahren vor einer Wand voller bunter Zettel saß und dachte: „So kann ich nicht weiterarbeiten“. Wieso der heute 43-Jährige zu dieser Erkenntnis kam, ist komplex. Deswegen nur so viel: Richter ist Projektsteuerer. Er begleitet und organisiert Bauprojekte, fast ausschließlich bei der Deutschen Bahn. Dafür benutzt er eine spezielle Methode – das Lean-Management. Was das genau ist, dazu später mehr. Zu dieser Methode gehörten aber die Zettel, von denen jeder für eine Aufgabe steht. Und weil das Bahnprojekt, das Richter zu dieser Zeit steuerte, sehr groß war, waren es viele, sehr viele Zettel: „Mir wurde klar, dass ich eine Software brauche, um diese Masse an Aufgaben besser zu organisieren“.
Vorzeige-Start-up mit Wurzeln in Halle
Aus diesem Zettel-Moment ist ein Unternehmen geworden. Es heißt TimeLEAN, wurde 2019 gegründet und ist, das kann man ohne viel Übertreibung sagen, ein Start-up, wie es sich Wirtschaftsförderer landauf, landab am liebsten hundertfach backen würden – gerade in ökonomisch eher trüben Zeiten. Wirtschaftlich erfolgreich und mit einer partizipativen Firmenkultur konnte sich TimeLEAN in den vergangenen Jahren in der Branche einen Namen machen und betreut heute einige der wichtigsten Bahnprojekte Deutschlands: mehrere Hochgeschwindigkeitskorridore, die Fehmarnbeltquerung, das ICE-Werk in Cottbus, die Friesenbrücke an der deutsch-niederländischen Grenze und nicht zuletzt Stuttgart 21 – das größte Infrastrukturvorhaben Europas.
Um zu erfahren, wie ein junges Unternehmen aus Halle, das 2024 circa zwei Millionen Euro Umsatz machte, zu diesen Projekten kommen konnte, muss man ins Zentrum der Saalestadt fahren. Dort hat TimeLEAN seit kurzem seinen Sitz in einem alten Sportkaufhaus – ein durchaus symbolischer Ort. Wo heute mit Software und modernen Arbeitsmethoden Geld verdient wird, machte früher der mittlerweile aus den Innenstädten gewichene Einzelhandel Umsatz. „Bei uns kommen immer wieder Leute vorbei, die erzählen, wie sie hier Fußbälle oder Schlittschuhe gekauft haben“, erzählt Saskia Meenken, die bei TimeLEAN für Personal und Firmenkultur zuständig ist. Auf vier Etagen hat sich das Start-up ausgebreitet. „Unser altes Büro wurde zu klein – und wir wollten bewusst auch mehr Platz für die Mitarbeiter haben.“

Die gesamte untere Etage, die sich nach außen hin zu zwei Seiten mit großen Fensterfronten öffnet, ist eine Art Gemeinschaftsfläche. Hier steht ein großer Tisch, an dem Pausen stattfinden. „Wir veranstalten hier auch Workshops und wollen künftig eine Art Akademie etablieren“, verrät Tobias Richter. Um die Ecke ist zudem ein abgetrennter Bereich, der mit Pflanzen voll gestellt ist. „Das ist unser Sauerstoffraum“, erklärt Saskia Meenken. „Bei der Einrichtung des neuen Büros waren alle Mitarbeiter beteiligt – da war das ein großer Wunsch.“
Mitbestimmung als Erfolgsfaktor bei TimeLEAN
Mitbestimmung, da ist sich Meenken sicher, ist ein Faktor, der über den Erfolg einer Firma mitentscheidet. „Bei uns soll eben nicht von oben diktiert werden, was gemacht wird.“ Damit hebe man sich von anderen Arbeitgebern ab. Das gilt auch für den gesamten Blick auf die Beschäftigten. Die werden nicht nur als Arbeitskraft gesehen, die die Aufgaben eines bestimmten Jobs zu erledigen hat. „Wir gehen da ganzheitlicher heran, sehen und beachten die vielen verschiedenen Rollen, die Menschen haben - etwa, wenn sie Eltern sind oder ein Ehrenamt haben.“

Auch innerhalb des Unternehmens gebe es solche Rollen, die über den reinen Job hinausgehen. Ein einfaches Beispiel: Jemand muss sich um die Pflanzen im Sauerstoffraum kümmern. „Wenn jemand diese Rolle annimmt, hat er weniger Zeit für andere Rollen - aber das ist dann auch in Ordnung“, sagt Saskia Meenken. Und Tobias Richter ergänzt: „Man darf das nicht falsch verstehen: Hier können nicht alle den ganzen Tag die Pflanzen gießen“, meint der Geschäftsführer. „Wir haben ja Anforderungen der Kunden und Termine, die wir einhalten müssen.“ Aber der umfassendere Blick auf die derzeit 29 Mitarbeiter führe bei diesen zu einer höheren Zufriedenheit, was wiederum motiviere: „Nur wenn es den Menschen gut geht, kann es auch der Firma gut gehen - davon bin ich überzeugt“.
Was bei TimeLEAN intern praktiziert wird, ist auch ein Teil dessen, was die Firma innerhalb des Lean-Managements in Projekten anwendet. „Lean“ ist englisch und bedeutet schlank. Entsprechend wird innerhalb des Lean Managements versucht, Prozesse zu erleichtern, sie zu entschlacken und dadurch zu optimieren - also Wartezeiten, Überproduktionen oder Fehler zu minimieren. Die Methode stammt aus Japan und wurde bei Toyota entwickelt. „Ein guter Freund hat mal gesagt: Lean ist Kinderstube mit gesundem Menschenverstand“, erzählt Richter. Man achtet und respektiert sich und hat alle Projektbeteiligten im Blick. Und: „Man darf den letzten nicht vor dem ersten Schritt machen – sonst fällt man auf die Nase.“
Vom Bahnknoten Halle zu Stuttgart 21
Was klingt wie eine Binsenweisheit, wird oft genug bei Bauprojekten nicht beachtet. Da kommt der Schienenschleifer, bevor die Schiene überhaupt verlegt ist. Und das führt zu Verzögerungen, die bei vielen Großvorhaben der Republik zu beobachten waren und sind. Ein Beispiel ist das Verkehrs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21, das eigentlich 2019 fertig sein sollte und bei demTimeLEAN seit Ende 2023 im Rahmen der Terminsteuerung unterstützt. Als Retter? So würde Tobias Richter sich nicht bezeichnen. „Wir sind eine unabhängige Instanz, die einen neuen Blick auf das Projekt einbringt und die Arbeitsabläufe neu strukturiert“, sagt der Unternehmer.

Dabei nutzten er und seine Mitarbeiter eine Methode des Lean-Managements, die sich „Letzter Planer“ nennt. „Wir schauen uns das Projekt vom Ende her an und arbeiten uns zum Ist-Zustand“, erklärt Richter. „Was ist der letzte Schritt vor Erreichen des Ziels, welcher Schritt kommt davor, welcher davor - und so weiter.“ So baue sich ein Prozessbaum auf, der bis zum heutigen Tag dauere. „Und den kann man dann abarbeiten, mit täglichen To-dos, Wochen- und Monatsplänen.“ Die TimeLEAN-Software, die Richter mit seinen IT-Experten entwickelt hat, bildet genau diese Prozesse ab - und ersetzt damit die Zettelwand. „Das Gute ist, dass wir den Verantwortlichen vor Ort die Arbeit mit dem Programm beibringen und sie es dann auch ohne uns nutzen können.“
Dass diese Herangehensweise funktioniert, zeigte sich bei Richters erstem Lean-Projekt: dem Bahnknoten Halle. „Ich war zuvor in Leipzig beim Citytunnel als Projektsteuerer“, erzählt der Hallenser. Sein Chef habe ihm damals angeboten, beim Bahnknoten mitzuarbeiten - unter Anwendung des Lean-Managements. „Ich kannte das damals gar nicht, habe dann Workshops besucht und mich eingelesen.“ Wie sich zeigte, funktionierte die Methode. Der Umbau des Bahnknotens war bis 2025 geplant. „Und wir sind in diesem Jahr fertig geworden.“
Expansion mit Augenmaß: Wohin die Reise für TimeLEAN geht
Innerhalb des Bahn-Kosmos sprach sich dieser Erfolg herum. „Wir mussten uns bisher noch bei keinem Projekt um die Steuerung bewerben, wir wurden immer gefragt“, sagt Richter. Auch bei Stuttgart 21. Dort habe es etwa eineinhalb Jahre gedauert, bis alle Prozesse aufgestellt waren. Damit verbunden war, da TimeLEAN immer mit Terminen arbeitet, auch die Festlegung eines Fertigstellungsdatums. Verraten will Tobias Richter das nicht: „Aber ein Ende ist durchaus in Sicht.“
Für TimeLEAN allerdings geht es weiter. Wichtig dabei sei, sagt Saskia Meenken, das Wachstum gut zu steuern. Als Nächstes eröffnet ein Büro in Hamburg, eines in Dresden gibt es bereits. Auch die Nutzung der Software in anderen Branchen soll vorangetrieben werden. „Uns nutzt zum Beispiel schon ein Festival“, sagt Meenken. „Auch andere Baubereiche wären vorstellbar.“ Allerdings verbrauchten die aktuellen Aufträge so viele Ressourcen, dass für Expansionen wenig Zeit bleibe. „Wenn wir übertreiben, geht das zulasten der Mitarbeiter - und dann auch der Firma“, ist Tobias Richter überzeugt.