Wer ist schon normal? Wer ist schon normal?: Verein für Anerkennung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt

Halle (Saale) - Toleranz ist Ants Kiel zu wenig. „Anerkennung und Akzeptanz von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt sind unsere Ziele“, sagt der Pädagoge und schiebt hinterher: „Die es immer schon gegeben hat.“ Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt sind für ihn eben kein bloßes Trendthema.
Der 54-Jährige hat vor bald 30 Jahren den Verein „lebensart“ in Halle mitbegründet. Der Verein unterhält ein Begegnungs- und Beratungszentrum (BBZ) sowie ein Fachzentrum für geschlechtlich-sexuelle Identität. „Wir wollen Mann und Frau nicht abschaffen. Das sind die Pole“, sagt Kiel. Ziel sei es, die Vielfalt, die es dazwischen noch gibt, sichtbar zu machen. Und all die Menschen, die sich dieser Vielfalt zugehörig fühlen, zu unterstützen: Leute, die nicht hetero-sexuell sind, sondern lesbisch, schwul oder bisexuell, trans- oder intergeschlechtlich.
Seit 2018 in Deutschland Geschlechtseintrag „divers“
Kurze Begriffserklärung: „Transgeschlechtlich sagen wir, wenn ein Mensch klar Mann oder Frau ist, sich aber dem anderen Geschlecht zugehörig fühlt“, sagt der Pädagoge. Intergeschlechtlich bedeute, dass ein Mensch vom körperlichen Geschlecht her nicht klar Mann oder Frau ist. Für diese Menschen gibt es seit 2018 in Deutschland den Geschlechtseintrag „divers“.
Ants Kiel ist sattelfest, was diese Begriffe und ihre Bedeutung angeht. Die Sicherheit hat nicht jeder. Gerade wenn aber die Übung fehlt, wird geschlechtergerechte Sprache schnell als anstrengend wahrgenommen, klingen Formulierungen umständlich. Ants Kiel sagt zu diesem Einwand: „Da fehlt die Geduld.“
Großer Beratungsbedarf auch an Schulen
Kiel ist viel an Schulen unterwegs, in 7., 8. und 9. Klassen, um Aufklärungsarbeit zu leisten. „Ich erlebe in Schulen mehrheitlich aufgeschlossene Jugendliche.“ Auch mit noch jüngeren Kindern und mit Senioren spricht er über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Am größten ist die Skepsis gegenüber dem Thema seiner Einschätzung nach bei Erwachsenen.
Gerade hat das BBZ ein Fazit zu seiner letztjährigen Arbeit vorgelegt. Demnach ist die Bildungsarbeit 2019 stark nachgefragt worden. Die nach Auskunft des Vereins mehr als hundert durchgeführten Veranstaltungen mit über 1.600 Teilnehmern sind tatsächlich eine beachtliche Zahl. Zumal der Verein nur zwei Angestellte hat. Neben Ants Kiel ist das die Psychologin Babett Jungblut.
Gruppe für Trans- und Intergeschlechtliche und die Jugendgruppe „Queerulanten“ für 14- bis 26-Jährige
Die 35-Jährige kümmert sich hauptsächlich um all jene, die zur Beratung in die Räume in der Beesener Straße 6 in Halle kommen, teils von weither: aus Magdeburg, Helmstedt oder Eisleben. Aber eben auch aus Halle und Umgebung. Die meisten kamen im letzten Jahr, weil sie Fragen zu ihrer Geschlechtsidentität hatten. Häufig ging es auch um sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität von Kindern.
Mitunter dient das BBZ einfach als Treffpunkt. Den größten Zulauf haben laut Babett Jungblut aktuell die Gruppe für Trans- und Intergeschlechtliche und die Jugendgruppe „Queerulanten“ für 14- bis 26-Jährige. Wenn die Psychologin die weiterhin höhere Selbstmordrate unter transgeschlechtlichen Menschen anspricht, so ist das durchaus ein Beleg dafür, warum es einen solchen geschützten Raum für die Gruppen braucht.
„Selbstschutz geht vor.“
Was bedeutet es aber, wenn der Lebensart-Verein sich für die „Sichtbarkeit“ nicht-heterosexueller Menschen einsetzt? Ist dies die Empfehlung an alle Nicht-Heteros, an Trans- und Intergeschlechtliche, sich offen zu zeigen? Babett Jungblut sagt: „Selbstschutz geht vor.“ Sie fände es schön, wenn Menschen egal welcher Orientierung ihre Zuneigung öffentlich zeigen. Doch dafür, so Jungblut, müssten sie sich sicher fühlen. Und was das angeht, sei die Lage in Halle vor fünf Jahren entspannter gewesen.
Dass diese Vielfalt offen gelebt wird, ist Ants Kiel zufolge „in Halle nicht zu jeder Tageszeit, vielleicht auch nicht in jedem Stadtteil selbstverständlich“. Er erzählt von einem Vorfall vor etwa fünf Wochen. Als zwei Männer vor der Schorre, einer Disco in der Willy-Brandt-Straße, Händchen hielten, sei einem von ihnen von einem fremden Mann auf die Nase geschlagen worden. Meistens äußere sich Ablehnung aber subtil. Wie tolerant sind die Hallenser? Es fällt dem Pädagogen schwer, eine allgemeine Einschätzung abzugeben. Denn Kiel beobachtet auch, dass es mehr Sensibilität und Offenheit gibt. Schließlich sagt er: „Die Akzeptanz wackelt gerade wieder.“
Übergriffe auf Homosexuelle in Halle
Dass Übergriffe etwa auf Homosexuelle in Halle zugenommen haben, lässt sich nicht belegen. Eine Sprecherin des Polizeireviers Halle sagt, derlei Fälle würden nicht statistisch erfasst.
Laut Babett Jungblut ist insbesondere die Transphobie ein Problem in Halle. „Da gibt es mehr Übergriffe.“ Zu den positiven Entwicklungen gehört, dass die Weltgesundheitsorganisation inzwischen erklärt hat, dass Transgeschlechtlichkeit nicht zu seelischen Störungen führt. Sie gilt also nicht mehr als Krankheit. Das Stigma, unnormal zu sein, sind transgeschlechtliche Menschen derweil aber noch nicht los. „Sie leiden an dieser Diskrepanz“, sagt Ants Kiel. Deshalb wird der Lebensart-Verein weiterhin Beratungen anbieten und sich gegen Diskriminierung einsetzen. (mz)