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Richtfest in Halle Richtfest in Halle: Dieser Kiez soll Königsviertel heißen

Von Detlef Färber 03.12.2015, 19:58
Noch drehen sich an der Kurt-Eisner-Straße die Kräne. Doch schon am Samstag soll hier die Richtkrone über allem schweben.
Noch drehen sich an der Kurt-Eisner-Straße die Kräne. Doch schon am Samstag soll hier die Richtkrone über allem schweben. Günter Bauer Lizenz

Halle (Saale) - Die richtige Höhe hat das Ganze schon. Muss es auch haben, sonst könnte ja nicht gefeiert werden, was heute hier gefeiert wird: das Richtfest auf Sachsen-Anhalts derzeit größter Baustelle in Sachen Wohnungsbau. 114 neue Wohnungen lässt die Hallesche Wohnungsgesellschaft „Freiheit“ bauen - und schließt damit eine von mehreren Brachen in einer Gegend der Innenstadt, mit deren Benennung sich die Hallenser schwer tun - bisher noch. Aber ab sofort soll ausgerechnet dieser Kiez Königsviertel heißen, anknüpfend an den einstigen Namen zweier benachbarter Straßen, die mal Königsstraße und Prinzenstraße hießen. Genug für ein Königsviertel? Oder ist es doch ein problematischer Name für eine seit Jahrzehnten problematische Gegend?

Doch die Frage ist auch: Kann ein Viertel von heute auf morgen Königsviertel werden? Oder wieder werden, falls es schon mal eins war? Die MZ hat sich vor dem Richtfest in der Gegend umgeschaut und eine höchst spannende Gegend entdeckt, in der sich - wie kaum anderswo in der Stadt - die hallesche, ja die deutsche Geschichte widerspiegelt. Ausgangspunkt der Erkundung ist natürlich der Neubau selbst, der sich zwischen Kurt-Eisner-Straße und Ernst-Toller-Straße erstreckt.

Schon ein Blick in die Runde - kaum mehr als 200 Meter in alle vier Richtungen - zeigt die gerade auch symbolische Bedeutung des Ortes: Westlich grenzen die Franckeschen Stiftungen an: August Hermann Franckes als Waisenhaus gegründete Schulstadt, die demnächst - wie wir hoffen dürfen - den Welterbestatus erhält. Und östlich ebenfalls ein Novum, nämlich jenes starke hallesche Willkommenssignal, dass in einer seit langem beispiellosen Flüchtlingskrise sogar ein einstiges Spitzenhotel kürzlich zu einem Zufluchtsort umgewidmet worden ist.

Könige des Arbeiter- und Bauernstaats DDR

In Nordrichtung grenzt mit dem außen so prächtigen Kultur & Kongresszentrum Halles für noble Festivitäten wohl beste Adresse an und südlich jenes Haus, von dem aus einst die Könige des Arbeiter- und Bauernstaats DDR regierten - oder besser deren Provinzfürsten in der SED-Bezirksleitung: mit harter Hand und in der traurigen Gestalt von zahllosen Betonköpfen.

Und sonst? Wo ist das Königliche im Viertel? Für Halles Stadtarchivar Ralf Jacob ist oder war das gar keine Frage. „Das Who is who der Wirtschaftskapitäne hat hier gewohnt“, sagt er - und verweist auf die zahlreichen Prachtvillen, die sich in der heutigen Willy-Brandt-Straße wie ein Perlenkette aneinanderreihen - gebaut von den vielen kleinen und großen Königen der frühen Industriealisierung. Von innen dürften viele Hallenser ja noch die „Villa Kobe“ kennen, die lange Jahre als Kunsthalle diente. Und die beispielhaft vor Augen führte, was großbürgerliches Wohnen einmal war und welche (leider wohl unwiederbringliche) kulturelle Bedeutung sie hatte.

Vor rund 150 Jahren ist diese Gründerzeitpracht gewachsen - in Sicht-, ja sogar Riechweite jener Orte übrigens, an denen der bürgerliche Reichtum entstanden ist. „Die Gründer wollten ihre Schornsteine noch rauchen sehen“, weiß Jacob. Im Unterschied wohl zu vielen ihrer Erben und Nachfolger, die sich schon bald aus dem Dunstkreis der Arbeit entfernten und in die sauberen Gegenden und Vororte zogen: Wenn man so will in die halleschen Königsviertel des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Lesen Sie auf der nächsten Seite unter anderem mehr über den Ab- und Aufstieg des Viertels.

Und damit begann der Abstieg des Viertels, das sich als Ort etwa der angrenzenden großen Maschinenfabrik „Mafa“ und später des Fernsehgerätewerks von der Einwohnerschaft her mehr und mehr proletarisierte. Und später nach 1990 den durch den Wegfall der Industrie im Stadtgebiet bedingten Strukturwandel besonders drastisch zu spüren bekam - bis hin zu einer unvergleichlich hohen Fluktuation und großem Leerstand etwa in den Hochhäusern ringsum.

Wenig königlich also, die jüngere Vergangenheit des künftigen Königsviertels. Lässt sich das schnell wieder ändern? Insbesondere Kenner der deutschen Geschichte, die heute zum Richtfest in die Kurt-Eisner-Straße kommen, dürften da ein bisschen schmunzeln - denn: Wie vertragen sich denn mit dem angedachten königlichen Viertel Straßennamen zu Ehren der beiden Revolutionäre Eisner und Ernst Toller? Zweier Revolutionäre, die unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs 1918 ganz maßgeblich an de Abschaffung der Monarchie beteiligt waren - und den letzten bayerischen König verjagt haben: Was sie dann beide allerdings aufs Bitterste büßen mussten.

Ob sich Königliches und Revolutionäres hier künftig besser vertragen werden als dereinst? Oder ob es einander vielleicht sogar befruchten und zu neuer urbaner Modernität steigern kann? Noch ist nur von der Zeichnung her und im Rohbau zu erkennen, was die Wohnungsgesellschaft „Freiheit“ an Baukörper zwischen die ehemals königlichen Straßen und die nach Toller, Eisner und immerhin auch noch nach Franckes Urenkel August Hermann Niemeyer benannten Nachbarstraßen hochgezogen hat: Als moderne Bauten „auf alter Baulinie“, wie WG-Freiheit-Vorstand Dirk Neumann betont.

Königliches Potenzial

Man habe „mit einem architektonischen Augenzwinkern“ und sogar unter Mithilfe von Künstlern der hiesigen Kunsthochschule Burg Giebichenstein geplant. Und die WG habe sich bewusst gerade für dieses Viertel entschieden und die große Baulücke dort gekauft, auch um einen - wie das heißt - „städtebaulichen Missstand“ zu beheben. Und um womöglich mit im Rennen zu sein bei der weiteren Erschließung eines Viertels mit quasi königlichem Potenzial: als facettenreiches, teils modernes, teils historisches Innenstadtquartier?

„Freiheit“-Chef Neumann sagt dazu schon mal so viel: „Was wir hier machen, ist gelebte Stadtentwicklung.“ Freilich, zur Entwicklung brauchen alle Beteiligten freie Hand. Und „freie Hand“ gibt es kaum anderswo mehr als hier, in einem Viertel mit so hoher Einwohner-Fluktuation und so wenig etabliertem Kleingewerbe. Und mit scheinbar kaum noch einem „Ureinwohner“, der erzählen könnte, wie das alles hier war vor 30 oder 50 Jahren. Und welches Haus etwa dort stand, wo nun bald 114 neue Mietparteien einziehen sollen.

Noch am ehesten alteingesessen ist Bärbel Diekmann, die in Glaucha aufgewachsene Inhaberin des Schneiderladens „Knopfloch“ in der Toller-Straße. „Ist schon auch ein schwieriges Viertel“, sagt sie und fühlt sich dennoch hier wohl. Auch weil es eigentlich schon viel gebe, ringsherum. „Außer einem Bäcker“, sagt Bärbel Diekmann. Na wie wär’s, Herr Neumann, finden wir dafür einen Laden? Muss ja nicht gleich der königliche Hofbäcker werden. (mz)

Neben dem Hochbau geht es in die Tiefe. Eine Krone hat das Viertel schon.
Neben dem Hochbau geht es in die Tiefe. Eine Krone hat das Viertel schon.
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Alt und neu - hier dicht an dicht
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Schneiderin Bärbel Diekmann kennt ihr Viertel - und liebt es trotzdem.
Schneiderin Bärbel Diekmann kennt ihr Viertel - und liebt es trotzdem.
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