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Nach vier Wochen im Koma Nach vier Wochen im Koma: Mühevoller Kampf zurück ins Leben

Von Bärbel Böttcher 25.04.2018, 08:00
Atmen lernen: Oberarzt Dr. Frank Kalbitz lässt Brita Barth zur Übung durch einen Widerstand atmen.
Atmen lernen: Oberarzt Dr. Frank Kalbitz lässt Brita Barth zur Übung durch einen Widerstand atmen. Krankenhaus Martha Maria

Halle (Saale) - Als Brita Barth nach Wochen im Koma langsam zu sich kommt, ist es, als riefe jemand nach ihr - immer wieder und monoton: Frau Barth! Frau Barth! Frau Barth! Erst langsam wird ihr klar, dass es keine Rufe sind, sondern ein rhythmisches Piepen, das sie zurück ins Leben begleitet.

Die Töne werden von den medizinischen Geräten verursacht, die die 51-Jährige versorgen. Sie liegt auf einer Intensivstation des Krankenhauses Martha Maria in Halle-Dölau.

Die Ärzte und ihr Team sind sowohl auf die Behandlung von Menschen spezialisiert, die länger als sieben Tage künstlich beatmet werden müssen, als auch auf deren Entwöhnung von den Beatmungsgeräten. Mediziner sprechen dabei vom „Weaning“ - das ist englische Wort für Entwöhnung.

Diese Patienten müssen erst wieder lernen, selbstständig zu atmen. „Denn eine längere künstliche Beatmung, die mit einer intensivmedizinischen Behandlung oder auch einem künstlichen Koma einhergeht, führt unweigerlich zum Funktionsverlust der Atemmuskulatur“, sagt Dr. Frank Kalbitz, der Leiter des „Weaning-Zentrums“.

Wenn diese Patienten wieder wach sind und eigentlich alle medizinischen Voraussetzungen erfüllten, die Beatmung durch eine Maschine einzustellen, schafften sie es deshalb auf Anhieb nicht, allein weiterzuatmen.

Schritt für Schritt müsse das trainiert werden, erklärt der Oberarzt. Bei zehn bis 15 Prozent der Betroffenen verlaufe dieser Prozess zudem kompliziert und brauche viel Zeit. Zeit, die Mitarbeiter einer typischen Intensivstation nicht haben.

Um sie zu entlasten, wurden die Entwöhnungszentren geschaffen. 38 davon gibt es bundesweit, zwei davon in Sachsen-Anhalt. Neben dem in Halle-Dölau besteht eines in Ballenstedt (Landkreis Harz).

Frank Kalbitz und sein Team behandeln in ihrem Zentrum zwischen 55 und 60 Patienten pro Jahr. Brita Barth ist ein typischer Fall. Die Frau, die in Thalheim, einem Ortsteil von Bitterfeld-Wolfen zu Hause ist, lebt seit Jahren mit COPD - einer chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung, die sich durch Husten mit Auswurf, Atemnot und einem pfeifenden Geräusch beim Ausatmen bemerkbar macht.

Ihren Beruf kann die gelernte Sekretärin schon lange nicht mehr ausüben. Immer wieder hat sie Erstickungsanfälle. Sie erhält dann beim Arzt eine Infusion. Danach geht es ihr jedes Mal besser.

Patientin in der Notaufnahme lag wochenlang im Koma

Nicht so am 21. November vergangenen Jahres. Der Anfall ist so stark wie nie zuvor. Brita Barth, in Begleitung ihrer Tochter unterwegs, schafft es gerade noch zu ihrem Hausarzt. Der erkennt den Ernst der Lage, ruft einen Rettungswagen und seine Patientin landet im Bitterfelder Krankenhaus.

Das letzte, woran sie sich erinnern kann ist, dass ihr dort eine Menge Fragen gestellt wurden, die sie aber wegen der Luftnot nicht beantworten kann. Sie verliert das Bewusstsein.

Eine Woche wird sie in Bitterfeld stabilisiert und dann nach Halle ins Krankenhaus Martha Maria verlegt. Wo sie beim Wachwerden dieses Piepen hört.

Wieder bei Bewusstsein will sie sprechen. Es geht aber nicht. Eine spezielle Kanüle in der Luftröhre, über die sie beatmet wird, verhindert das. Sie möchte sich bewegen. Kann aber nur den Kopf hin und herdrehen. Denn nicht nur die Atemmuskulatur, nein, auch alle anderen Muskeln bilden sich durch das lange Liegen zurück.

Brita Barth hat Angst, dass das so bleibt. Zumal sie unter einer zweiten schweren Erkrankung leidet: Multiple Sklerose. Sie fürchtet, die Bewegungslosigkeit rührt daher. Und fragt sich: Warum bist du überhaupt wieder aufgewacht? Die Patientin reagiert aggressiv, was vor allem ihr Mann zu spüren bekommt. „Ich war mitunter so bösartig, dass ich mich noch heute so manches Mal dafür entschuldige“, erzählt sie.

Mitte Dezember beginnt ihre Beatmungsentwöhnung. Die Beatmung wird dabei für einen bestimmten Zeitraum, der von Mal zu Mal länger wird, unterbrochen. In diesen Beatmungspausen gilt es, die Muskulatur zu trainieren. Etwa durch kräftiges Husten oder durch das Ausatmen gegen Widerstände.

Die Atemtherapeuten haben dafür ganz spezielle Gerätschaften. Brita Barth erinnert sich an die „Pusteröhrchen“, mit denen die maximale Strömungsgeschwindigkeit gemessen werden kann, die die Atemluft beim Ausatmen erzeugt. Der Kerngesunde erreicht Werte von 350 bis 400 Litern in der Minute.

„Der Schwellenwert liegt bei 160. Wer darunter liegt, läuft Gefahr, dass die Atemmuskulatur wieder versagt“, erklärt Frank Kalbitz. Bei der Thalheimerin liegt er deutlich unter 100. „Sie hätte keine Kerze auspusten können“, sagt der Arzt. Doch innerhalb einer Woche steigert sie sich auf 250. Heute erreicht sie 480 Liter in der Minute.

Das Atemtraining allein reicht aber nicht. Auch die anderen Muskeln müssen trainiert werden. Mindestens zweimal am Tag kommen Physiotherapeuten. Arme und Beine werden mit Bettfahrrädern in Schwung gebracht.

Wer in der Lage ist aufzustehen, übt an verschiedenen Geräten. Brita Barth kann als erstes die Füße etwas bewegen. Alles andere geht nicht. Nicht einmal ihrer einjährigen Enkelin kann sie zurückwinken, als diese sich nach einem Besuch verabschiedet.

Das tut weh, spornt aber zugleich an. Brita Barth übt mehr als zuvor. Und als die Enkelin wieder zu Besuch kommt, kann die Oma zumindest mit dem Finger winken.

Die Familie an ihrer Seite zu wissen, das sei wichtig gewesen, betont Britta Barth. „Ich habe mir - wie schon bei der Diagnose MS - gesagt: Für so etwas habe ich keine Zeit. Ich muss mich um meinen Mann, meine zwei Kinder und die momentan vier Enkelkinder kümmern.“ Für den Herbst habe sich das fünfte angekündigt. Da muss die Oma fit sein.

Fast noch wichtiger seien für sie in dieser problematischen Zeit aber die Schwestern gewesen. „Wie oft haben die mich in der Nacht gedreht, wenn ich nicht mehr liegen konnte“, sagt sie.

Bis zu 15 Mal seien sie gekommen. Dabei habe sie in der ersten Zeit ja nicht einmal genug Kraft, um die Klingel zu betätigen. Eine erfindungsreiche Schwester habe ihr dann eine Touch-Klingel besorgt, und so platziert, dass sie diese mit dem Kopf bedienen konnte. „Sie hat dafür gesorgt, dass ich wieder selbstständig nach jemandem rufen konnte. Und das war der erste richtig tolle Moment.“

Die Verständigung mit den Patienten ist generell ein großes Problem. Für Ärzte, Schwestern und Angehörige gleichermaßen. Es gibt Buchstabentafeln, mit denen Worte gedeutet werden können. Was Konzentration und Geduld erfordert. Beides bringt Brita Barth nicht in großem Umfang auf. Also wird es mit Zeichensprache versucht, mit dem Lippenablesen.

Und was ist mit moderner Technik? Etwa einem Tablet-Computer? Kalbitz schüttelt den Kopf. Es sei ausprobiert worden. „Aber mehr als die Hälfte unserer Patienten ist älter als 65“, sagt er. Und für sie sei das schwer. Zumal in einer Situation, in der sie vielleicht nicht einmal die Finger bewegen können.

Für Brita Barth hat sich dieses Problem am 2. Januar endgültig erledigt. Die Beatmungskanüle kann entfernt werden. Sie kann sprechen. Atmet wieder ohne fremde Hilfe. Braucht auch keine stundenweise Beatmung mehr, ist relativ beschwerdefrei. Lediglich ein Spray kommt regelmäßig prophylaktisch zum Einsatz.

Krankenhaus Martha-Maria in Halle: 20 Jahre Erfahrung

Ein solches Ergebnis steht am Ende nicht bei jedem. „Von den schwer zu entwöhnenden Patienten muss etwa ein Drittel lebenslang dauerhaft beatmet werden“, sagt Kalbitz. Einige brauchten nach der Entlassung eine stundenweise Beatmung, etwa eine Nasenmaske, die nachts getragen wird. „Doch die meisten können nach unserem strukturierten Konzept entwöhnt werden“, so der Mediziner.

Kalbitz verfügt über eine große Erfahrung auf diesem Gebiet. In diesem Jahr kann das Zentrum in Halle-Dölau, das er mit aufgebaut hat, auf 20 Jahre Arbeit zurückblicken. „Als wir angefangen haben, war noch gar nicht abzusehen, welche Bedeutung das einmal haben wird“, sagt Kalbitz. „Der Bedarf an der Entwöhnungstherapie nimmt zu.“

Warum? Zum einen gebe es eine höhere Zahl älterer Patienten, betont Kalbitz. Zum anderen führe der medizinische Fortschritt dazu, dass immer mehr Patienten längere Zeit beatmet werden müssten, die schwere Krankheiten überstehen, mit denen sie noch vor wenigen Jahren kaum Überlebenschancen gehabt hätten.

Brita Barth ist übrigens froh, am Leben zu sein. Nach ihrem Aufenthalt in Dölau sagt sie: „Ich lebe jetzt viel bewusster.“ (mz)