Multiple-Sklerose-Patientin Multiple-Sklerose-Patientin: Wie die Hallenserin Daria die Corona-Pandemie bewältigt

Halle (Saale) - Die Kanten auf dem Boden sind unscheinbar. Nur wenige Zentimeter ragen die Steine des Kopfsteinpflasters auf dem Marktplatz in Halle empor. Doch für Daria Jung gleichen sie einem Hindernissparkour. Mühsam stemmt die Hallenserin ihren Rollator über das Pflaster. Immer wieder verkanten die Gummireifen in den Ritzen. Berühren ihre Turnschuhe den steinernen Boden, geht ein Zittern durch ihre Beine.
Als das Stromkabel eines Imbisswagens ihre Route kreuzt, hält Daria inne. „Das ist wie eine Bergwanderung“, schnauft die zierliche Frau. Sie sammelt ihre Kraft und hievt ihr Gefährt über die orangene Schnur. Daria ist 27 Jahre alt. Sie hat Multiple Sklerose (MS).
Corona-Infektion wäre für Daria lebensgefährlich
Die Krankheit äußert sich vor allem in Nervenentzündungen, die verschiedene Symptome auslösen können. Ein Entzündungsschub vor etwa einem Jahr hat Darias Beine gelähmt. Zeitweise habe sie gar nicht aufstehen können, sagt sie. Jetzt, dank langer Therapie, kann sie mit ihrem Rollator wieder eigenständig gehen - zumindest ein Stück weit.
Doch jedes Mal, wenn Daria in diesen Tagen einen Fuß vor die Tür setzt, begibt sie sich in Lebensgefahr. Denn die junge Frau gilt als Hochrisikopatientin. Um weitere Entzündungen zu verhindern, bekommt sie ein Medikament, das ihr Immunsystem unterdrückt und so ihre Abwehrkräfte schwächt.
Eine Corona-Infektion wäre für sie mit großer Wahrscheinlichkeit tödlich. „Das wäre eine Katastrophe“, sagt Daria. Sobald sie Menschen näher kommt, setzt sie eine Maske auf. Mehr bleibt ihr nicht. Denn: Zuhause bleiben, das kommt für die Hallenserin nicht in Frage. Sie versuche daher, keine Angst vor dem Virus zu entwickeln. „Wenn ich nur zuhause sitze, kann ich bald gar nicht mehr laufen.“ Und dann droht ihr ein Leben im Rollstuhl. Für immer. Für sie ist das die viel größere Angst.
Corona trifft MS-Patienten
Dieses Schicksal teilten derzeit viele der MS-Patienten, sagt Gabriele Haseloff, Ehefrau des Ministerpräsidenten und Schirmherrin des Landesverbands der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG). „Die Corona-Pandemie betrifft uns alle. Aber MS-Patienten trifft sie noch zig Mal härter“, betont Haseloff. Der Verband unterstützt seine rund 1.000 Mitglieder in Sachsen-Anhalt mit Selbsthilfegruppen und Beratungsangeboten. Doch die dafür wichtigen Spenden gingen zurück, sagt die Schirmherrin. Bekam der Landesverband 2019 noch 6.000 Euro von Pharma-Firmen, habe es in diesem Jahr aufgrund von Umsatzeinbußen bisher keine derartigen Spenden gegeben. Weitere Einbrüche seien zu befürchten.
Für die Betroffenen sei jedoch vor allem die psychische Belastung enorm, sagt Haseloff. Einerseits seien sie massiv durch das Coronavirus gefährdet, andererseits seien sie auf Kontakte angewiesen. „Die dürfen jetzt nicht abreißen“, sagt Haseloff.
Alltag mit Hindernissen
Daria Jung hat sich daher von ihrer Wohnung in Halle-Neustadt auf ins Zentrum gemacht. Die Sonne scheint, die Luft trägt einen Rest der Spätsommerwärme über den Marktplatz. Gute Bedingungen also. Darias Tagesziel: Der Elektromarkt in der Leipziger Straße. Doch den wird sie heute nicht erreichen. Als Daria gut 200 Meter von der Straßenbahnhaltestelle zurückgelegt hat, lässt sie sich auf die Sitzfläche ihres Rollators fallen - mitten auf dem Marktplatz. Wie um eine Klippe in der Brandung fließt der Strom aus Menschen nun an ihr vorbei. Pause. Auf der kurzen Strecke von der Haltestelle bis zum Geschäft muss sie zahlreiche Hindernisse überwinden. Hindernisse, die die meisten Menschen nicht als solche wahrnehmen.
Die abschüssige Fläche an der Haltestelle, Stühle und Tische, die es zu umschiffen gilt, unzählige Kanten und Stufen. Kräftezehrende Gegner für Daria und ihren Rollator. Sie zeigt auf den Eingang zu einer Bankfiliale am Marktplatz. Hier ist sie Kundin. Doch den Zugang blockieren drei steinerne Treppenstufen. Will sie in die Bank, muss sie jemanden um Hilfe bitten. Das mache sie jedoch nur ungern, sagt die 27-Jährige. „Sowas nennt man Stolz.“
Wenig Sensibilität für MS-Krankheit von Arbeitgebern
Um ihre Eigenständigkeit kämpft Daria täglich, seit elf Jahren. Mit 16 erhält sie die Diagnose MS. Über Nacht ist damals eine ihrer Körperhälften plötzlich gelähmt. Zwei Jahre gibt ihr der Arzt in der Klinik, dann säße sie im Rollstuhl. Er irrt sich. Als Jugendliche ignoriert Daria die Krankheit zunächst - bis die Symptome immer stärker werden. Als erstes kommt der Blasendrang. Immer häufiger muss sie auf Toilette. „In der Schule hatte ich schnell den Spitznamen Pullerliese.“ Das Abitur bricht sie schließlich ab - der Prüfungsstress lässt die Nervenentzündungen explodieren.
2013 beginnt sie stattdessen eine Ausbildung in einem Callcenter. Sitzen, sprechen - das kann sie. Schnell merkt sie jedoch: Ihre Chefs misstrauen ihr. Fällt sie wegen Krankheit aus, muss sie sich rechtfertigen. Die häufigen Toilettengänge machen den Arbeitgeber skeptisch. „Mir ist sogar einmal jemand aufs Klo gefolgt.“ Sie wechselt zu einem Kundencenter. Doch auch hier zeigt man wenig Sensibilität für die MS-Patientin. Die Kündigung erhält sie wenig später am Telefon - während sie im Krankenhausbett liegt. „Mir ging es damals richtig beschissen.“ Heute bekommt Daria eine Erwerbsunfähigkeits-Rente.
Wenig Rücksicht in der Bahn
Einen Toiletten-Besuch und eine halbe Stunde später wartet Daria auf die Straßenbahn vom Marktplatz in Richtung Halle-Neustadt. Bis zum Elektro-Markt hat sie es nicht geschafft, die Müdigkeit treibt sie nach Hause. Als die Türen der Bahn aufgleiten, wartet sie geduldig, bis die Menschen eingestiegen sind. Während sie ihren Rollator schließlich über die Schwelle ins Innere wuchtet, schiebt sich eine junge Frau ungeduldig an ihr vorbei. Die Maske klemmt unter ihrer Nase.
Es seien diese alltäglichen Situationen, die sie traurig machten, sagt Daria Jung. Wenn sie wieder jemand anrempelt, sie wieder die Bahn verpasst, weil sie zu langsam ist. Manchmal müsse sie dann weinen, manchmal sei sie nur wütend. MS bedeutet für die 27-Jährige auch:
Jeder Weg - ob zur Physiotherapie oder zum Einkaufen - muss geplant werden. Wo sind die steilen Kanten, die öffentlichen Toiletten? „Es ist wie bei einer Auslandsreise.“ Von ihren Mitmenschen wünscht sie sich dabei manchmal mehr Sensibilität. Kein Mitleid, sondern eine distanzierte Rücksicht. In der Straßenbahn, bei der Stadtplanung, am Arbeitsplatz. „Oft heißt es, Behinderte werden bevorzugt. Aber das stimmt nicht.“
Daria hat noch einiges vor
Trotz ihrer Krankheit führe sie aber ein fröhliches Leben - meistens. Sie schreibt Geschichten, häkelt, besucht ihren Freund, den sie in einer Reha-Klinik kennen gelernt hat. Er wohnt etwa eine Stunde Autofahrt entfernt auf dem Land. „Es gab ein Leben vor der Schwäche und mein neues Leben.“ Und in dem hat sie noch einiges vor:
Einen Roman veröffentlichen, heiraten, Kinder bekommen. Dass ihr dafür wahrscheinlich nicht mehr allzu viel Zeit bleibt, sei in Ordnung, sagt Daria. Denn viel älter als 60 werde sie wahrscheinlich nicht. „Das ist ok. Ich hatte ein tolles Leben“, sagt sie und lächelt. (mz)