Mitteldeutscher Verlag aus Halle wird 70 Mitteldeutscher Verlag aus Halle wird 70: Keine Sorge, es wird gefeiert

Halle (Saale) - Die Neujahrsempfänge des Mitteldeutschen Verlages (MDV) sind feste Termine im kulturellen Kalender Sachsen-Anhalts - und darüber hinaus. Die Gäste reisen auch aus Leipzig an, was nicht selbstverständlich ist. Es gibt hierzulande nicht viele Anlässe, in denen sich das kulturelle Milieu zwanglos über Sparten und Ortsgrenzen hinweg begegnet.
Insofern war es eine Irritation, als der Verlag Ende 2015 die erwarteten Einladungen verschickte. „Liebe Freunde des Mitteldeutschen Verlags“, war da in weißer Schrift auf schwarzem Grund zu lesen: „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass unser legendärer Neujahrsempfang nächstes Jahr ausfallen wird...“. Wie bitte? Sollte das ein Scherz sein - zumal in Zeiten der Informations-Krise? Genau das war es. Auf der Rückseite stand geschrieben: „Aber keine Sorge, es wird trotzdem ordentlich gefeiert, denn der Mitteldeutsche Verlag hat 70. Geburtstag!“ Und aus diesem Grund habe man den Empfang aufgeschoben und nicht aufgehoben.
Heute Abend wird im Kunstforum der Sparkasse in Halle gefeiert. Für geladene Gäste gibt es Schriftsteller-Lesungen im Dreiminuten-Takt, Elektromusik von Houdini Humbug. Und vor allem gibt es Anlass dazu. Es wird der erste runde Geburtstag des 1946 gegründeten Verlages sein, an dem man nicht mehr vor allem auf dessen große Vorgeschichte verweisen muss. Darauf, dass hier einst mit Autoren wie Volker Braun, Günter de Bruyn und Karl Mickel, mit Bestsellern wie „Nackt unter Wölfen“ (1960) von Bruno Apitz und Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ (1968) der gegenwartsliterarisch interessanteste Verlag der DDR betrieben wurde. Der neue Mitteldeutsche Verlag, der dem halleschen Unternehmer Stephan Schütze - Miteigentümer des Druckhauses Schütze - gehört, ist heute ein Verlag aus eigener Kraft.
Das war nicht absehbar, als 2004 der aus Westberlin stammende Germanist Roman Pliske als Geschäftsführer in das Unternehmen einstieg, das abenteuerliche Zeiten hinter sich hatte. Damals sprach der heute 45-Jährige davon, den Verlag lebendiger und konturierter in der Region platzieren zu wollen, als es zuvor der Fall gewesen war. Das sei nicht so schnell gelungen, wie ich damals dachte, sagt der Vater von vier Kindern. „Als ich in Halle anfing, war ich viel ungeduldiger.“ Was drückt da auf die Bremse? Es seien vor allem die äußeren Umstände, sagt er. „Der Markt hat sich stark verändert.“
Die Buchhandlungen auf dem Lande verschwinden; nach 1989 von Menschen um die 40 gegründete Geschäfte schließen inzwischen; die Verkaufskonditionen durch die großen Geschäfte verändern sich zuungunsten der Verlage. Und trotzdem: „Was das Lese- und Kaufverhalten betrifft, bin ich gar nicht so pessimistisch“, sagt Pliske. Der MDV macht inzwischen ein Umsatz-Fünftel im Internet.
700 lieferbare Titel
Der Verlag: Das sind rund 700 lieferbare Titel, 1,3 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Davon werden nur zehn Prozent mit der Belletristik, noch einmal zehn mit Branchen- oder Behördenverzeichnissen erwirtschaftet. Den Löwenanteil erzielen die 13 Mitarbeiter des Verlages im Sachbuchbereich, mit Reise- und Bildbänden, Ausstellungskatalogen und Auftragswerken - Druckkostenzuschüsse, sagt Pliske, würden nur von Institutionen genommen, nicht von Privatpersonen, was nicht selbstverständlich ist.
Der Verleger spricht vom Standbein der Firma, das in der Region stehe, vom Spielbein, das überregionale Themen erreiche. Auch in landschaftlicher Hinsicht. Mit dem Morio Verlag in Heidelberg betreiben die Hallenser eine Tochterfirma, einen sogenannten Imprint-Verlag, der kulturhistorische Bücher vertreibt, darunter die gut gemachte „Stationen“-Reihe. Hier zielt MDV auf den deutschen Südwesten. Aber auch Niedersachsen wird mit Titeln versorgt, weil es dort „keinen starken Regionalverlag“ gibt, wie Pliske sagt.
Es gehört zu den Verdiensten des Verlages, dass er die deutsche Gegenwartsliteratur pflegt, gerade auch die Literatur vor Ort, mit der man nur im Ausnahmefall Geld verdient. Aber darum geht es nicht. „Wir pflegen den literarischen Nachwuchs, weil es sonst keiner macht“, sagt Pliske. Zuverlässig finden sich Lyrikbände in seinem Verlag (unter anderem von Wilhelm Bartsch, Christine Hoba, Christian Kreis, Ralf Meyer, Marco Organo, André Schinkel, Michael Spyra und Margarete Wein). Und überraschende Titel mit Erfolgspotenzial. Von Christopher Eckers Großroman „Fahlmann“ (1 028 Seiten!) verkaufte MDV über 2 000 Exemplare, der größte literarische Erfolg seit zehn Jahren. Außerordentlich gut liefen der autobiografische Roman („Hans im Glück oder Die Reise in den Westen“) des 2015 gestorbenen Rostocker Bürgerrechtlers Christoph Kleemann und die von Alexander Kobylinski verfasste Biografie von Wolfgang Schnur „Der verratene Verräter“. Ein Überraschungserfolg war die Neuausgabe des 1983 veröffentlichten Romans „Das Windhahn-Syndrom“ von Winfried Völlger, die sofort in die zweite Auflage ging.
Man hält auch den Kontakt zur Verlagsvergangenheit. Der MDV versucht, jährlich einen Titel von Erich Loest zu verlegen, 2016 „Durch die Erde ein Riß“. Genauso hält man es mit Harry Thürk. Nur die Geschichte des Mitteldeutschen Verlages ist zum 70. Geburtstag noch immer nicht recherchiert. Immerhin eines der spannenderen Kapitel der deutschen Nachkriegsliteratur. Das - teilweise gefledderte Archiv bis zum Jahr 1996 - liegt in Magdeburg; noch leben einige Zeitzeugen. Forscher und Institutionen gäbe es auch noch, die das anfassen könnten. Vielleicht von der Uni Halle aus. (mz)