Wahrzeichen und Qual Merseburg Straße gesperrt: Blaues Wunder in Halle wird ab heute abgerissen

Halle (Saale) - Eigentlich bezeichnen die Hallenser die Fußgängerbrücke über die Merseburger Straße in Anlehnung an das Bauwerk in Dresden als „Blaues Wunder“. Doch angesichts ihres jämmerlichen Zustands grenzt es tatsächlich an ein Wunder, dass die hallesche Brücke überhaupt noch steht. Noch. Denn ihre Tage sind gezählt. Am 5. Oktober beginnen gegen 20 Uhr die Abrissarbeiten, schon zehn Tage später soll von ihr nichts mehr übrig sein.
Im Zuge des Stadtbahnprogramms, bei dem die Merseburger Straße erneuert wird, muss die Brücke weichen. Während der Bauarbeiten ist die Merseburger Straße bis zum 15. Oktober unter der Brücke für den Verkehr und Fußgänger gesperrt. Auch die Straßenbahn ist betroffen: Bis zum 9. Oktober um 2 Uhr nachts fahren zwischen Hauptbahnhof und Damaschkestraße keine Trams. Die Linien 2 und 5 werden umgeleitet.
Blaues Wunder als Wahrzeichen von Halle
Mit dem Ende des Blauen Wunders verliert Halle nicht einfach nur eine baufällige Brücke, sondern ein Wahrzeichen. Jeder, der über die B91, „die Merseburger“, in den Süden fährt, muss hier durch und konnte den Verfall der vergangenen Jahre selbst mit ansehen. 1971 als moderne Brücke in Schalenbauweise errichtet, ermöglichte sie Fußgängern, die vierspurige Trasse gefahrlos zu überqueren.
Aufgänge befanden und befinden sich noch heute am Com-Center und der Ecke Rudolf-Ernst-Weise-Straße. Doch richtig praktisch wurde die Brücke erst durch einen zweiten Arm, der über die Weise-Straße zur Kirchnerstraße führte. Dort befand sich ein dritter Treppenaufgang. Fußgänger konnten so, hatten sie die beschwerlichen Treppen erst einmal bezwungen, ohne Wartezeit und Ampel zwei Hauptstraßen überqueren. Vielleicht war das Blaue Wunder nicht das ästhetischste Bauwerk der Stadt, aber sicher eines der praktischsten.
Arm über die Weise-Straße wegen Schäden 2009 abgerissen
Diesen Vorteil verlor sie im Jahr 2009, als der Arm über die Weise-Straße wegen Schäden durch Umwelteinflüsse abgerissen wurde und Fußgänger fortan an einer Ampel warten mussten. Der ADAC forderte damals, die Schaltung so zu gestalten, dass Autofahrer nicht so lange warten müssten. Wenn der Automobilclub damals geahnt hätte, was Autofahrern auf der Merseburger Straße noch droht...
Denn mit dem Abriss des einen Teilstücks war es nicht getan. Die Bröckel-Brücke moderte weiter vor sich hin, eine Sanierung war der Stadt zu teuer. Erst stellte sie Warnschilder an die Aufgänge, die vor Schäden an den Treppen warnten. Als selbst das irgendwann nicht mehr zu vertreten war, wurde schließlich die ganze Brücke gesperrt und eine Ampelanlage an deren Stelle installiert - zum Ärger der Autofahrer, die auf dem Weg in den Süden nun noch einmal mehr anhalten mussten.
Vom Trabi bis zum Ferrari
46 Jahre lang ist vom Trabi bis zum Ferrari wohl so ziemlich alles unter der Brücke hindurchgefahren, was Räder hat. Dass diese Zeit in wenigen Tagen vorbei ist, stimmt Fotograf Knut Müller traurig. Der Sohn von Herbert Müller, besser bekannt als „Schalen-Müller“, der in der DDR die sogenannte HP-Schale entwickelte, war für einen Erhalt der Brücke.
Sie wurde immerhin mit den „hyperbolisch-paraboloiden Betonfertigteilschalen“, wie die in der DDR beliebten Bauelemente offiziell hießen, gebaut. „Der Abriss trifft mich schon, denn es war eine bezeichnende Bauweise“, sagt Müller. Bauwerke, die im Stil dieser Ost-Moderne gebaut wurden, würden in Halle immer weniger. „Es gibt noch die Sporthalle in Neustadt am Stadion und die hinter dem ehemaligen Finanzamt“, sagt Müller.
„Es ist schade, dass der Riebeckplatz immer mehr aufgelöst wird“
Auch Henryk Löhr, der Vorsitzende des Arbeitskreises Innenstadt, bedauert den Abriss des Blauen Wunders. „Es ist schade, dass der Riebeckplatz immer mehr aufgelöst wird, ohne dass klar ist, wo es hingeht“, sagt Löhr. Zwar sehe die Brücke im aktuellen Zustand „nicht doll“ aus, aber sie habe doch einen „gewissen Schwung“.
Abwenden lässt sich der Abriss dennoch nicht mehr, es sei denn, die Brücke wehrt sich gegen ihre Zerstörung, so wie im Jahr 2009. Damals war ein Bauunternehmen im ersten Anlauf grandios damit gescheitert, die Brücke einzureißen. Ein Kran, der den tonnenschweren Steg über die Weise-Straße anheben sollte, musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Das Bauteil war zu fest mit dem Rest der Brücke verbunden.
Erst im zweiten Anlauf gelang die Demontage. Die Brücke, die ab der kommenden Woche fällt, hätte also wohl auch noch weitere 46 Jahre gehalten. Ob’s die Hallenser gefreut hätte? Die Autofahrer, die nun an der Ampel warten müssen, wahrscheinlich schon. Die Fußgänger, die sich Hunderte Male über die Stufen hoch und runter quälten, wohl eher nicht. (mz)


