Literatur Literatur: Lieblingsdichterin Hitlers kam aus Halle
Halle (Saale)/MZ. - Sie ist die schillerndste Figur der halleschen Literaturgeschichte: Denn die Biografie von Ina Seidel (1885-1974) liest sich wie ein Zweiteiler ohne Verbindung. Da ist zunächst die Ärztetochter, die 1885 in Halle geboren wurde und in gutbürgerlichen Verhältnissen aufwuchs. Schicksalsschläge blieben jedoch nicht aus: Kurz vor ihrer Geburt starben zwei ältere Brüder an einer Diphterie-Epidemie in Halle. Ihr Vater verübte Selbstmord. Auch die 1907 geschlossene Ehe mit ihrem Cousin Heinrich Seidel verlief zunächst nicht glücklich. So verstarb Ina Seidels erstes Kind kurz nach der Geburt, sie selbst blieb als Folge des Kindbettfiebers gehbehindert. Erst 1919 wurde mit Sohn Georg ein zweites Kind geboren.
Ina Seidel wendete sich der Literatur zu, bemühte sich, ihre Erfahrungen von Mütterlichkeit und Kindsverlust als Roman zu verarbeiten. So erschien nach anderen Werken 1930 "Das Wunschkind" - ihr literarischer Durchbruch. Privat lebte sie still an der Seite ihres Gatten, der als Seelsorger mal in Berlin, mal in Eberswalde und ab 1934 in Starnberg tätig war.
Schweigen über 12 Jahre
An dieser Stelle machen die Biografen von Ina Seidel eine künstlerische Pause . Und weiter geht es in der Erzählung nach 1945. Die Schriftstellerin wurde zu einer beliebten Unterhaltungsautorin der alten Bundesrepublik - mit Preisen überhäuft und mit großer Leserschaft. 1974 verstarb Ina Seidel in der Nähe von München. Was aber geschah dazwischen, im "Dritten Reich"? Peinliches Schweigen. Zu Recht, denn bereits 1933 leistete Seidel Hitler den Treueeid. Fortan stellte sie ihr Werk ganz in den Dienst des Nationalsozialismus, beschwor den deutschen Bauern, die deutsche Mutterschaft, die deutsche Romantik. Zum 50. Geburtstag Hitlers dichtete sie auf den "Auserwählten der Generation" folgende Verse: "In Gold und Scharlach, feierlich mit Schweigen, / ziehen die Standarten vor dem Führer auf. / Wer will das Haupt nicht überwältigt neigen? / Wer hebt den Blick nicht voll Vertrauen auf?"
Ina Seidels Zuwendung zur Hitler-Diktatur blieb nicht ohne Reaktion. Ihr Werk, allen voran "Das Wunschkind", wurde in jedem von Deutschland besetzten Land vertrieben und erreichte bald eine Auflage von 450 000 Exemplaren. Die Autorin selbst wurde in den Ehrensenat des Reichsverbands Deutscher Schriftsteller aufgenommen und 1941 mit dem Grillparzer-Preis geehrt. In Halle wurde eine Mädchenschule (heute Weidenplanschule) nach Seidel benannt. Der rechte Ritterschlag folgte 1944, als sich der Untergang des faschistischen Regimes bereits abzeichnete. Hitler stellte eine Liste "gottbegnadeter" Künstler zusammen, die ihm für unersetzbar galten und somit vom Kriegsdienst an der Front oder in der Rüstungsindustrie verschont werden sollten. Auf der "Gottbegnadeten-Liste" finden sich sechs Schriftsteller, die Hitlers Ideologie literarisch in Szene setzten - darunter Ina Seidel.
Statt Buße Bundesverdienstkreuz
Nach dem Krieg konnte Seidel, anders als viele ihrer Kollegen ihre schriftstellerische Karriere nahtlos vorantreiben. Sie wurde weder angeklagt wie Hanns Johst noch mit einem Schreibverbot abgestraft wie Erwin Guido Kolbenheyer. Stattdessen erschienen ihre Bücher in neuen Auflagen bereits 1945, noch während der Papierrationierung. Neue Romane wie "Das unverwesliche Erbe" (1954) erschienen, Preise wurden vergeben. 1966 bekam die ehemals glühenden Nationalsozialistin sogar das Große Verdienstkreuz. Über die "braune" Vergangenheit der Ina Seidel aber legte sich der Mantel des Schweigens. 1995 veröffentlichte der halleschen "Courage"-Verein eine sehr verharmlosende Kurzbiografie über Ina Seidel - unter dem klangvollen Reihentitel "Frauen machen Geschichte".
Dabei ist Seidel aufgrund ihrer aktiven Rolle keinesfalls als gewöhnliche Mitläuferin der Faschisten einzustufen. Der Autor Peter Noss sieht sie gar als "Wegbereiterin der völkisch-ideologischen Anschauung des Nationalsozialismus". Doch das fällt, wie erwähnt, in jene künstlerische Pause, die Seidels Biografen bevorzugen.