Lesung in Halle Lesung in Halle: Als Mädchen in Franckes Waisenhaus - als Junge in die Welt

Halle (Saale) - Es ist eine sensationelle Geschichte, die sich da vor vielen Jahrhunderten beim guten alten Francke zugetragen hat! Unter den vielen armen Kindern, die schon kurz nach Gründung des Waisenhauses durch August Hermann Franckes 1695 ein Dach über dem Kopf gefunden haben, ist auch die neunjährige Catharina Margaretha Linck. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend - die Mutter wurde von einem Soldaten geschwängert - lernt das Mädchen im Waisenhaus Lesen und Schreiben.
Doch weil ihr das alltägliche Beten in Franckes Stiftungswerk bald zu viel wird, nimmt sie mit 15 Jahren Reißaus und erfindet ihr eigenes Leben, das von der Autorin Angela Steidele 2015 in ihrem erotischen Briefroman „Rosenstengel“ beschrieben wird: Als Mann verkleidet streicht Linck durch die Lande, tritt in Calbe erstmals in Männerkleidung auf und rüstet sich sogar mit einem Horn aus, mit dem sie im Stehen pinkeln kann.
1705 wird sie Soldat bei den Truppen des Kurfürstentums Hannover
Sie reist mit einer Sekte bis nach Nürnberg, schließt sich den Täufern an und wird als Anastasius Lagrantinus Rosenstengel sogar getauft. 1705 wird sie Soldat bei den Truppen des Kurfürstentums Hannover. Für ihre sexuellen Kontakte mit Frauen fertigt sie sich einen Lederbeutel als Penis an und stopft, so Angela Steidele, den „Beutel, von Schweineblasen gemacht“, aus.
Catharina Margaretha Linck kämpft mehrere Jahre unentdeckt als Musketier der Preußischen Truppen. Und heiratet gar in Halberstadt als Anastasius Rosenstengel eine andere Frau - zu dieser Zeit wohl mehr als spektakulär. Von ihrer argwöhnischen Schwiegermutter enttarnt, wird Anastasius Rosenstengel 1720 der Inquisitionsprozess gemacht, in dem das Corpus Delicti - ein „von Leder gemachtes, ausgestopftes männliches Glied“ - auf großes Interesse in der Öffentlichkeit stößt.
Letzte Frau, die wegen „Unzucht“ mit einer anderen Frau in Europa hingerichtet wird
Unter dem Galgen gibt sich Catharina Margaretha Linck als Frau zu erkennen - und stirbt im November 1721 in Halberstadt als letzte Frau, die wegen „Unzucht“ mit einer anderen Frau in Europa hingerichtet wird.
Jahrhunderte später wird der Nervenarzt und Vertraute von König Ludwig II., Bernhard von Gudden, auf diesen ungewöhnlichen Fall aufmerksam. Er berichtet Ludwig II. davon, der das Thema - vermutlich auch aus persönlicher Betroffenheit - sehr interessiert aufnimmt. Es wird eine Debatte in Gang gesetzt, die bis heute anhält: Wie gestaltet sich das Verhältnis von Geschichte und Darstellung, Wahrheit und Täuschung, Wissenschaft und Wahn, Körper und Identität, Mann und Frau?
Hallenserin bringt Rosenstengel auf die Bühne
Und hier kommt nun endlich Sophie Scherer ins Spiel. Die gebürtige Hallenserin, Jahrgang 1981, kam nach dem Studium der Theaterwissenschaften in Leipzig und einem Engagement als Dramaturgin in Bayern 2014 zurück nach Halle. Für das neue Format „Bar jeder Kunst“ am NT hat die junge Regisseurin und Dramaturgin die historisch verbriefte, im Roman verdichtete Geschichte für die Bühne aufgearbeitet - als eine „transhistorische Lesung“. Doch was heißt in diesem Falle „für die Bühne“?
„Bei ,Bar jeder Vernunft’ haben die Schauspieler im Schaufenster der Kulturinsel nur eine minimale Auftrittsfläche zwischen Tresen und Publikum“, erklärt Sophie Scherer. Zudem würden sich, nach dem Motto „ohne proben ganz nach oben“, die Akteure vor der Vorstellung nur zwei, drei Mal treffen. Gerade das mache das Format besonders. Und so gebe es auch jeweils nur eine einzige Vorstellung, so die Theaterfrau, die bereits mit den Inszenierungen „Unterwerfung“ und „Frankenstein“ von sich reden gemacht hat.
Zur Lesung am Donnerstag, 20.15 Uhr, kommen Rosenstengel selbst, aber auch Ludwig II. und Kaiserin Sissi zu Wort. Im Anschluss kann mit Autorin Angela Steidele diskutiert werden, denn, so Sophie Scherer: „Das Thema passt ziemlich gut zum Frauentag“. (mz)