Kinder in Armut Kinder in Armut: Forscherin aus Halle warnt vor voreiligen falschen Schlüssen

Halle (Saale) - Deutschland ist ein wohlhabendes Land - dennoch sind viele Kinder von Armut betroffen. So lebten im Jahr 2015 in Sachsen-Anhalt 23,8 Prozent der Kinder unter 18 Jahren in Familien, die eine Grundsicherung für Arbeitssuchende erhielten - also arm waren. Was macht das mit den Jungen und Mädchen? Und wird genug für die Kinder getan, um ihnen eine Zukunft zu sichern?
Nein, sagt Johanna Mierendorff, Professorin für Sozialpädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle. Sie hält am Donnerstag in der Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften im Rahmen einer landesweiten Demografie-Woche zu Beginn einer Podiumsdiskussion einen Vortrag, in der es um Perspektiven für Kinder aus sozial benachteiligten Familien geht. „Das Bewusstsein, wie arme Familien mit Kindern wirkungsvoll unterstützt werden können, ist noch zu wenig ausgeprägt“, stellt die Wissenschaftlerin im Gespräch mit der Mitteldeutschen Zeitung fest.
Warnung vor Klischee
Armut ist zunächst ein ökonomisches Problem der gesamten Familie, sagt Mierendorff. Entsprechend wichtig sei es, die Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt intensiver voranzutreiben und eine Lohnpolitik zu betreiben, die es Eltern ermöglicht, eine Familie zu versorgen - also die finanzielle Grundsicherung der Familien zu stabilisieren. „Aber neben der wirtschaftlichen muss man auch immer die davon berührte Lebenslage der Familien insgesamt im Blick haben.“ Denn auch das gehöre zur Armut: Abstiegsangst oder sozialer Abstieg, möglicherweise wachsende gesundheitliche Probleme, verunsicherte Eltern oder eingeschränkte Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben. „All das bekommen natürlich auch die Kinder zu spüren“, sagt Mierendorff.
In der Öffentlichkeit werde oft ein völlig falsches Bild von Familien gezeichnet, die unter der Armutsgrenze leben: „Übergewichtige Eltern, die den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen und sich nicht um ihre Kindern kümmern - das ist ein weit verbreitetes Klischee“, meint die Diplompädagogin. Tatsächlich gebe es solche Mütter und Väter, „aber sie sind in der absoluten Minderheit“. Das werde auch durch Studien belegt.
Die meisten Eltern bemühen sich nach Kräften
Die meisten Eltern bemühten sich nach Kräften, ihren Kindern eine Perspektive zu bieten, ist sich die Forscherin sicher. Dabei stießen sie aber oft an ihre Grenzen: Die Suche nach einem Arbeitsplatz, regelmäßige Gespräche mit Lehrern in der Schule über die Leistung ihrer Kinder, der oft komplizierte und auf jeden Fall zeitraubende Umgang mit den Behörden - was für viele Menschen alltäglich und leicht zu bewältigen ist, könne sich für diese Familien zu scheinbar unüberwindlichen Hindernissen auftürmen. „Wir brauchen eine bessere Unterstützungsstruktur“, fordert Mierendorff. Also zum Beispiel qualifizierte Betreuer, die auf den Einzelfall bezogen helfen; Pädagogen, die bewusst mit dem Phänomen Armut in ihren Einrichtungen umgehen.
„Man muss Situationen schaffen, die die Kinder entlasten“, sagt die Wissenschaftlerin. Dabei erzielten oft schon kleine Korrekturen eine große Wirkung. Als Beispiel nennt sie eine Kita, die für alle Kinder Gummistiefel und Ölzeug anschaffte. Nun können auch die Kinder, deren Eltern sich den Kauf solchen Kleidung - warum auch immer - nicht leisten können, bei schlechtem Wetter draußen spielen. „Gleichzeitig wurden die Kinder nicht ausgegrenzt - weil die Gummistiefel ja für alle angeschafft wurden“, beschreibt Mierendorff den Effekt.
Podiumsdiskussion in Halle: Was willst du werden?
Sachsen-Anhalt hatte im Jahr 2015 mit 23,8 Prozent im Vergleich zu den anderen ostdeutschen Bundesländern immer noch den größten Anteil an Kindern, die in Armut leben. Der Prozentsatz sank allerdings im Vergleich zum Jahr 2011, damals waren es noch 26,1 Prozent.
Die in der Statistik verwendete Armutsdefinition bezieht sich auf die sozialstaatlich definierte Armutsgrenze, nach der diejenigen Kinder als arm gelten, die in einer Bedarfsgemeinschaften leben, also in einem Haushalt, der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II/Hartz IV) erhält.
Die Podiumsdiskussion in der Leopoldina zum Thema „Was willst Du werden, wenn Du groß bist? Perspektiven für Kinder aus sozialbenachteiligten Familien“ beginnt am Donnerstag, 17. August, um 18 Uhr im Vortragssaal Am Jägerberg 1. Neben Johanna Mierendorff werden Oliver Holtemöller (Abteilungsleiter des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle), Susi Möbbeck (Staatssekretärin im Landessozialministerium) und Katharina Brederlow (Beigeordnete der Stadt Halle) auf dem Podium sitzen. (mz)
