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Heimliche Hallenser Heimliche Hallenser: Victor Klemperer - Professor kontra Propaganda

Von Detlef Färber 02.11.2019, 11:00
Er hatte einen Lehrstuhl in Halle inne: Victor Klemperer (1881-1960) auf dem „Wissenschaftswürfel“ in Neustadt, einem vom halleschen Bildhauer Gerhard Geyer entworfenen und 1972 fertiggestellten Denkmal.
Er hatte einen Lehrstuhl in Halle inne: Victor Klemperer (1881-1960) auf dem „Wissenschaftswürfel“ in Neustadt, einem vom halleschen Bildhauer Gerhard Geyer entworfenen und 1972 fertiggestellten Denkmal. Lutz Winkler

Halle (Saale) - Das Buch war wie eine Bibel für kritische Geister in der DDR. Passagenweise kannten hierzulande seit den siebziger Jahren vor allem Studenten auswendig, was 30 Jahre zuvor ein Professor - wenn auch nicht professoral - zu Papier gebracht hatte.

Eine scharfsinnige sprachwissenschaftliche Analyse, die zugleich ein erschütternder, atemberaubender Erlebnisbericht zur Judenverfolgung in Hitler-Deutschland war, die der aus dem heute polnischen Teil Brandenburgs stammende Rabbiner-Sohn Victor Klemperer schließlich mit viel Glück und Mut überlebt und sogar weitgehend unversehrt überstanden hatte.

„Notizbuch eines Philologen“

„LTI“ heißt das Buch, abgekürzt für Lingua tertii imperii, sprich Sprache des dritten Reiches. Es ist mit „Notizbuch eines Philologen“ untertitelt und schildert den Überlebenskampf, die Ängste, das sich Verstecken-Müssen eines täglich von der Deportation und Vernichtung bedrohten Wissenschaftlers in seiner langjährigen Heimatstadt Dresden, in der er als Jude bei Hitlers Machtergreifung fast über Nacht sein Universitätsamt, sein Ansehen und sein Einkommen verloren hatte.

Doch obwohl er ständig in Gefahr war, analysierte Klemperer für seine Aufzeichnungen kühl und genau jene Sprache und ihre immer neuen Sprachregelungen, deren Wirkung auf die Massen dem deutschen Faschismus (letztlich bis hin zum Holocaust) mit den Weg bereitet und die sich als Parolen sogar in den Köpfen von Leuten festgesetzt hatten, die keine Nazis waren. Und nie welche sein wollten.

Elf Jahre in Halle gelehrt

Geschrieben hat Klemperer das Buch wohl größtenteils noch in Dresden, bevor er seine Professorenstelle in Halle antreten konnte - just in jenem Jahr 1947, als die „LTI“ erstmals erschien. Aus dem Rechtlosen und Verfolgten war inzwischen wieder ein Professor geworden: Und zwar einer, der - wie man heute sagen würde - zu den Stars seiner Uni zählte.

Überliefert sind Berichte von stets bis auf die letzten Plätze gefüllten Hörsälen und von Vorlesungen dieses Romanisten, die auch fakultätsübergreifend frequentiert wurden. Victor Klemperer, so heißt es, habe stets frei gesprochen und allenfalls mit der Nutzung eines kleinen Notizzettels kokettiert, den er seinen „Schnuller“ nannte, aber den er als brillanter Redner wohl eher gar nicht brauchte.

Denkmalwürfel für herausragende Wissenschaftler

Das Ansehen, das er sich aber bei weitem nicht nur als Vortragender erwarb, hat Klemperer übrigens einen Platz auf dem von Gerhard Geyer geschaffenen Denkmalwürfel für herausragende Wissenschaftler eingebracht, die einst in Halle lehrten.

Doch hat der Romanist Klemperer dann wohl vor allem als Zeitzeuge die Zeit überdauert - und als Chronist einer Art Sprachentwicklung, die direkt zu totalitärem Denken führt. Klemperer beschrieb, wie durch ständig wiederholten Gebrauch aus ursprünglich eher harmlosen, oft auch technischen Worten wie etwa „Gleichschaltung“ bald schon Waffen geworden sind.

Klemperer beschrieb, wie Sprache als Propaganda-Sprache dann sogar das Gefühl lenkte

Grundgedanke in der LTI ist übrigens das Schiller-Wort „Sprache, die für dich dichtet und denkt“. Klemperer beschrieb, wie die Sprache als Propaganda-Sprache dann sogar das Gefühl lenkte: „Sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse“, schreibt er - und: Dass sich diese Sprach bald schon „aller öffentlichen und privaten Lebensbereiche“ bemächtigt habe.

Es war leider nur die erste, in diesem Ausmaß von oben diktierte politische Korrektheit, sprich „erlaubte Sprache“, die Victor Klemperer in den zwölf Hitler-Jahren und auch schon auf dem Weg dorthin wahrgenommen hatte. Doch sei es „wohl einzig Goebbels“ gewesen, der damals die erlaubte Sprache bestimmte.

Sprache des vierten Reichs?

Den jungen Leuten in der DDR jedenfalls hat - außer noch der raffinierte Roman „König David Bericht“ von Stefan Heym - wohl kein Buch sonst so geholfen, sich gegen die dauerhaft penetrante sozialistische Staatspropaganda und deren Hassparolen gegen fast alles Bürgerliche, Freie und Demokratische zu immunisieren.

Professor Klemperer hatte die Mechanismen der Propaganda anhand der „Sprache des dritten Reiches“ durchschaut (aber auch bereits eine Sprache des „vierten Reichs“ heraufziehen sehen). Und er hat seinen Lesern dafür die Augen geöffnet, sie also befähigt zu erkennen, dass gewisse Sprachregelungen oft noch verhängnisvoller im Sinne herrschender Ideologien wirken als deren Sprachverbote und Tabus.

Für Victor Klemperer dürfte die Zeit in Halle nach den zwölf bitteren Jahren der Nazi-Zeit aber auch ein kleines Happy End gewesen sein. Zu erwähnen bleibt, dass er nach dem Tod seiner ersten Frau Eva in Halle noch ein spätes Glück bei seiner Studentin, späteren Assistentin und Gattin Hadwig gefunden hat. (mz)