Heimliche Hallenser Heimliche Hallenser: Fand Heinrich Hoffmann den "Struwwelpeter" in Halle?

Halle (Saale) - „Konrad!, sprach die Frau Mama, ich geh’ aus und du bleibst da. Sei hübsch ordentlich und fromm, bis nach Haus ich wiederkomm’!“ Was aber, wenn nicht, wenn sie nicht wiederkommt, die Frau Mama? Es ist das große, Poesie gewordene kindliche Trauma der Verlassenheit im Leben von Heinrich Hoffmann, dessen Mutter starb, als er noch kein Jahr alt war.
Er, der spätere Arzt, Mitbegründer der Jugendpsychiatrie, der Abgeordnete des Vorparlaments zur Frankfurter Nationalversammlung des Jahres 1848 war - und Autor eines der erfolgreichsten Kinderbücher der Welt.
„Verwarnung wegen des Verdachts der Beleidigung eines Nachtwächters“
Heinrich Hoffmann (1809-94), Frankfurts großer Sohn, gehört mit allem, für das er steht, aber auch zu den großen Hallensern auf Zeit (mindestens 15 Monate) und Studenten der hiesigen Universität. Zudem verbindet sich mit seinem Namen eine kleine, wenn auch nicht übermäßig ruhmreiche Halle-Episode: 1833 gab es gegen den Kandidaten der Medizin eine „Verwarnung wegen des Verdachts der Beleidigung eines Nachtwächters“.
Das Genie als Fall für den Kadi? Von Karzer ist hier sogar die Rede bei dem Mann, der elf Jahre später, vor nun genau 175 Jahren, als junger Familienvater sein Struwwelpeter-Buch mit allerlei auf den ersten Blick moralisierenden Geschichten über kindliche oder jugendliche Verfehlungen, Undiszipliniertheiten oder gar Verstocktheiten füllen sollte. Ob er sie vielleicht sogar mit Blick auf eigene Selbsterfahrungen, gar als Selbsttherapie niedergeschrieben hat, darüber ist von Psychologen und späteren Fachkollegen Hoffmanns schon ganze Aufsätze lang nachgedacht und spekuliert worden.
Ob Hoffmann etwa eine heute als Hyperaktivität benannte Störung hatte?
Ob Hoffmann etwa eine heute als Hyperaktivität benannte Störung hatte, die er in seinem „Zappelphilipp“ beschrieben hat - und die deshalb heute gelegentlich als Zappelphilipp-Syndrom bezeichnet wird? In Halle soll Hoffmann von seinen Kommilitonen wegen endloser Spaziergänge (und der daraus resultierenden Abwesenheit bei den beliebten studentischen Saufgelagen) „Hase“ genannt worden sein.
Auch sein bereits geschilderter Wutausbruch gegen den Nachtwächter passt haargenau zu Hoffmanns Struwwelpeter-Geschichte von Friederich, dem Wüterich. Apropos haargenau: Der von Hoffmann - etwa schon die Hippie-Ära vorausahnend? - mit einer Jimi-Hendrix-Matte gemalte Struwwelpeter hat dann doch auch Ähnlichkeit mit Hoffmanns eigenem späteren Struppi-Look, mit dem der langhaarige Doktor und Bartträger wohl ziemlich neben der Spur seiner Zeit lag.
Spaziergänge ins nahe Glaucha vor Halles Stadtmauer
Äußerlich verwahrloste und auch ansonsten schwierige Kinder dürfte der spätere Leiter einer der ersten deutschen Psychiatriekliniken in Frankfurt bereits in seiner halleschen Studentenzeit gesehen oder kennengelernt haben, wenn ihn seine Spaziergänge ins nahe Glaucha vor Halles Stadtmauer führten, wo Waisenvater Franckes Erben in den Stiftungen sozial benachteiligten und verhaltensauffälligen Nachwuchs betreuten.
So mag das Buch, das der Arzt Dichter und Zeichner Hoffmann seinem ersten Sohn Carl Philipp dann 1844 zu Weihnachten schenkte, wohl schon seit der Zeit in Halle in seinen Gedanken gewachsen sein. Wie er damit die Herzen von Kindern und Eltern erreicht hat, zeigt neben dem großen Verkaufserfolg und den zahlreichen Übersetzungen auch die Vielzahl der Adaptionen und Parodien, etwa in Mundarten.
Viele liebevolle Einblicke ins kindliche Gemüt
Hoffmanns Erfolg hätte sich, ähnlich dem von Grimms Märchen, aber kaum eingestellt, würden sich bei ihm hinter etlichen einfachen moralischen Botschaften und Gefahrenwarnungen nicht so viele liebevolle Einblicke ins kindliche Gemüt finden und mit elterlicher Sorge verbinden. Die Zitterpartien, die sich für Eltern mit dem Heranwachsen ihrer Kinder verbinden können, hat Hoffmann in gedichtete Dramen gegossen, die man fast Moritaten nennen möchte und die (im Verstehen märchenhafter Narrative geübte) Kinder mühelos dechiffrieren können.
Dass „Struwwelpeter“, Brüder Grimm & Co. den Anhängern der Kuschelpädagogik heute ziemlich gegen den Strich gehen, macht sie für alle anderen wohl umso kostbarer - und auf neue Weise reizvoll. (mz)
