Halle Halle: Halles vergessener Dichter
Halle (Saale)/MZ. - Alfred Wolfenstein wurde am 28. Dezember 1883 in Halle geboren. Sein Vater Heymann stammte ursprünglich aus Obersitzko (bei Posen) und lebte in Halle von den Einkünften aus einer Immobilie in der Dorotheenstraße. Doch er hatte kein Glück als Vermieter. 1888 verkaufte er das Haus und zog in eine bescheidene Wohnung am Großen Berlin, bevor er 1889 in Dessau mit der Eröffnung der "Anhaltinischen Möbelhallen" einen Neubeginn wagte. Im Folgejahr verstarb er. Seine Witwe Klara führte nun das Geschäft, gab Privatunterricht und nahm Untermieter auf, um die kleine Familie - Alfred und seine drei Jahre jüngere Schwester Sophie - durchzubringen. Doch die wirtschaftliche Lage der Familie blieb angespannt. Nachdem Alfred nach sechs Jahren die Schule verließ, musste er eine Ausbildung im Holzhandel absolvieren, um seine Mutter finanziell zu entlasten. Erst 1901 konnte er mithilfe Berliner Verwandter seine Schulausbildung in der deutschen Hauptstadt wieder aufnehmen und 1905 mit dem Abitur beenden.
Wolfenstein galt als Sonderling, war verträumt und dichtete - was allerdings in der kulturell sehr interessierten Familie zunächst nicht weiter auffiel. Seiner Mutter zuliebe studierte er ab 1905 Jura in Freiburg, München und Berlin, ab 1907 auch in seiner Geburtsstadt Halle, wo er zwei Semester lang lernte. Parallel zu seinem Studium veröffentlichte Wolfenstein ab 1910 eigene Texte in verschiedenen Zeitschriften. Als 1914 mit "Die gottlosen Jahre" sein erster Gedichtband erschien, wurde er gegen den Willen seiner Mutter zum freien Schriftsteller.
In den stark autobiografischen Gedichten versuchte sich Wolfenstein am expressiven Sprachklang der jungen Dichter, blieb dabei trotzdem in der Tradition von Rainer Maria Rilke und Stefan George. Das Gedicht "Zwischen den Lieben" etwa beschreibt die vergebliche Suche nach mütterlicher und fraulicher Liebe: "Und wie durch eine leere Fensterscheibe / Kahl und gespenstisch bleich ist alles anzusehn. / Ihm ist als sei ihm gar nichts von dem Weibe / Doch auch von seiner Mutter nie etwas geschehn."
Schnell avancierte er zum Star unter den Berliner Expressionisten und fand auch in München, wohin er nach seiner Hochzeit mit der Schriftstellerin Henriette Hardenberg 1916 zog, Anschluss an die dortige Künstlerszene. Wolfenstein verkehrte gleichermaßen mit Rilke, Thomas Mann und Johannes R. Becher, aber auch mit dem jungen Brecht und Lion Feuchtwanger. 1917 legte er mit "Die Freundschaft" seinen zweiten Gedichtband vor, reagierte auf den Weltkrieg und die anschließende Revolution allerdings sehr irritiert und wendete sich von der Lyrik nahezu vollständig ab.
Fortan verdingte er sich in Berlin als Übersetzer und Dramatiker und trat mit der Forderung nach mehr Humanität für eine politischere Literatur ein. Der große Erfolg blieb allerdings aus, denn nach wie vor standen seine jüngeren Werke im Schatten der sensationellen Gedichte aus früheren Tagen. 1930 trennte sich seine Frau von ihm, drei Jahre darauf floh Wolfenstein vor den Nationalsozialisten nach Prag. Hier arbeitete er für zahlreiche Exilzeitungen und brachte mit "Gefährliche Engel" (1936) eine wunderschöne und noch immer lesenswerte Sammlung von Erzählungen heraus. Wolfenstein litt unter der Trennung von seinem Sohn, der nach Palästina emigriert war, und von seiner nach London ausgewanderten Ex-Frau, der er noch immer freundschaftlich verbunden war. In dem Gedicht "Trennungen in dieser Zeit" heißt es etwa: "Es ist so schmerzlich gut, dich noch zu sehn. / Und du? Die fremde Welt kann's doch verstehn, / dass auch die Männer manchmal weinen müssen, / Ja, sie erlaubt am Bahnhof, dich zu küssen."
Doch auch in Prag war er nicht sicher vor den Nazis. 1938 emigrierte er nach Paris, lebte dort bis zum deutschen Einmarsch und wurde inhaftiert. Ein ihn verehrender Offizier erkannte Wolfenstein jedoch und ließ ihn frei - es folgte eine kaum dokumentierte Odyssee in den Wahn. Im Winter 1940 schlug sich Wolfenstein nach Carcassonne in der Nähe der spanischen Grenze durch, wo er vergeblich auf ein Ausreisevisum wartete. Obwohl sich Thomas Mann und Stefan Zweig für ihn einsetzten, gelang es Wolfenstein nicht, sich ins Ausland abzusetzen.
Stattdessen tauchte er in Nizza unter. Dort lebte er in einem Gartenhaus, das er aus Furcht vor antisemitischen Übergriffen nur nachts verließ. Nachdem seine ebenfalls jüdische Lebensgefährtin Andrée Weil aufgegriffen und deportiert worden war, lebte Wolfenstein ganz allein. Er soll ein zweites Mal inhaftiert gewesen sein, in Scheunen und Ställen gehaust haben, doch nichts davon ist verbürgt. Im Februar 1944 tauchte Wolfenstein wieder im besetzten Paris auf. Dort lebte er unter dem Namen Albert Wörlin in ärmlichen Verhältnissen. Herzkrank wurde er in das Rothschild-Krankenhaus eingewiesen, wo er sich, depressiv und nervenschwach, am 22. Januar 1945 das Leben nahm. Der hallesche mdv-Verlag arbeitet derzeit an einem Lesebuch, das an Alfred Wolfenstein erinnern soll.