Galerie-Nord in Halle Galerie-Nord in Halle: Burnout à la Kafka

Halle (Saale) - Berühmter Auftakt einer noch berühmteren Erzählung: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ In einem Wettbewerb der „Initiative Deutsche Sprache“ ist dieser Satz eingangs der von Franz Kafkas vor genau hundert Jahren veröffentlichten Erzählung zum zweitschönsten „ersten Satz“ der deutschsprachigen Literatur gekürt worden (hinter „Ilsebill salzte nach“ aus „Der Butt“ von Günter Grass). Und ebenfalls bereits im Jahr 1915 verfügte Kafka, dass es zur Hauptfigur der „Verwandlung“ keine Illustration geben dürfe.
Weil das natürlich nur für Buchveröffentlichungen gilt (und zudem wohl längst verjährt ist) haben sich bildende Künstler aus Halle mit Blick auf das kleine Kafka-Jubiläum von der „Verwandlung“ inspirieren lassen und mit ihren Arbeiten eine nun auch für den Betrachter höchst inspirierende thematischen Ausstellung zustande gebracht. Eine Schau, die für diese schon auf so vielfältige Weise interpretierte Erzählung zwar eher keine neuen Deutungen bereithält, das Thema aber - durchaus auch in Kafkas Sinn - weiterdenkt und es anhand anderer Verwandlungsvarianten durchspielt.
Wie etwa in jener Holzskulptur von Jan Thomas, der womöglich eine Menschwerdung des Wolfs oder wohl doch eher eine Wolf-Werdung des Menschen per Pappelholz in Szene setzt: Dabei schaut uns aus einem weit aufgerissenen Raubtierrachen ein zwar entschlossen und offensiv gesinnt wirkendes, aber immerhin doch menschliches Antlitz an. Ein Gesicht, wie es durchaus auch denkbar ist als Ergebnis häufiger, sehr „unruhiger Träume“, wie sie Kafkas Gregor Samsa offenbar in seine missliche Lage gebracht haben.
Oder waren es etwa doch nicht nur die Träume? Mag sein, dass die gefühlte Verwandlung Gregor Samsas in ein großes Ungeziefer der Höhepunkt eines langen depressiven Prozesses in unverwechselbarer Kafka-Szenerie ist: Gespeist aus Überforderung, Ermüdung und Antriebsschwäche und gepaart mit der wachsenden Entfremdung Samsas vom eigenen Beruf, dem eines Handelsvertreters im Außendienst. Es geht also womöglich um alles das, was seinerzeit noch nicht fast ungeprüft in einen großen Topf namens Burnout geworfen werden konnte, sondern noch zu einfühlsamen und detaillierten Überlegungen und Nachfragen Anlass gegeben haben dürfte.
„Ängstliche Leute, die von der Seite herankommen.“
Übrigens hat Kafka just in dem Jahr, in dem er seine „Verwandlung“ schrieb - im Juli 1912 nämlich - ein paar Stunden eines Zugaufenthalts auf einer Fahrt Richtung Harz in Halle verbracht: Und war dabei wohl auch in einer Art Gregor-Samsa-Stimmung. Der hallesche Autor Bernhard Spring hat ein paar Tagebuchaufzeichnungen Kafkas gefunden, die - als Beschreibung der Hallenser, die ihm begegneten - einen höchst kafkaesken Satz enthalten: „Ängstliche Leute, die von der Seite herankommen.“
Doch es sollte für den deutschsprachigen Jahrhundert-Dichter in Halle noch schlimmer kommen: Am Ende, schon wieder im Zug sitzend, notiert der Prager Autor: „Wäre ich ein Kind, so müsste ich mich abtransportieren lassen, so schmerzen mir die Beine.“ Jene Beine - so dürfen wir in Kenntnis seiner „Verwandlung“ ergänzen - auf die der auf dem Rücken liegende Käfer Gregor Samsa buchstäblich ums Verrecken nicht mehr kommen konnte.
Doch wie haben sich die übrigen Ausstellungs-Zuarbeiter die Kafkasche „Verwandlung“ künstlerisch anverwandelt? Eine Art Verwandlung in einen Schatten von sich selbst hat die Burg-Absolventin Linda Harig in einer ihrer höchst aufwendigen Frottage-Arbeiten zu Papier gebracht und damit zugleich transparent gemacht. Die Kafkasche Käfer-Fantasie als ein Selbstbild des bloß noch Funktionierens (aber bald vielleicht Nicht-mehr-funktionieren-Könnens) macht Judith Runge mit einem große Sperrholzkäfer deutlich, dessen Glieder sich quasi wie bei einem Hampelmann am Strick bedienen lassen könnten. Und die Grafikerin Claudia Berg hat schließlich Franz Kafkas Bild selbst einer raffinierten Verwandlung angedeihen lassen und ihn unter anderem mit einem Bild von Immanuel Kant „überradiert“.
Doch eine andere Art von Kafka-Bild-Verwandlung hat dieses Jahr zum Glück Reiner Stachs genialer Biografie-Abschluss „Die frühen Jahre“ gebracht. Vor allem mit der Erkenntnis, dass Kafka wohl doch mehr Liebesgenuss vergönnt war, als wir bisher denken mussten. Und, dass der schwermütige Erzähler gerade auch an der Seite so genannter leichter Mädchen sein Leben durchaus auch mal auf die leichte Schulter nehmen durfte. (mz)
Ausstellung in der Galerie-Nord, Bernburger Straße 14 - bis 30.12

