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Aufstand des Gewissens Extinction Rebellion Halle: wie die Bewegung die Öko-Revolution probt

Von Steffen Könau 11.12.2019, 11:00
Bei der bisher größten „Rebellion“ in Berlin waren auch die XR-Mitglieder aus Halle dabei - die Gruppe aus Sachsen-Anhalt beteiligte sich an der Blockade der Jannowitzbrücke.
Bei der bisher größten „Rebellion“ in Berlin waren auch die XR-Mitglieder aus Halle dabei - die Gruppe aus Sachsen-Anhalt beteiligte sich an der Blockade der Jannowitzbrücke. dpa

Halle (Saale) - Die Flüsse waren dreckig, die Luft verseucht und Solveig Lindner hatte Angst. Angst vor einer Zukunft in einer Welt, die untergeht. Das war damals, vor 30 Jahren, als die schmale Hallenserin mit dem Kurzhaarschnitt gerade ihr Abi ablegte. „Eilenburg, wo ich herkomme, war vergiftet“, sagt sie heute, und auch, dass es schon besser geworden sei seitdem mit der Umwelt. „Aber nur lokal, im Weltmaßstab war es noch nie so schlimm wie heute.“

Marco Gergele und Bernd Müller, die mit am Tisch sitzen, nicken. Nie. So. Schlimm. Genau deshalb sind ja alle drei Mitglied geworden bei Extinction Rebellion, der Umweltschutzbewegung „Rebellion gegen das Aussterben“, die in England erfunden wurde, um den Mächtigen der Welt in Sachen Klimaschutz Feuer unter dem Hintern zu machen.

Extinction Rebellion: die Kompromisslosen

Wenn Greenpeace der Klima-Opa ist, der allenfalls noch altersweise leise Hinweise gibt, und Fridays for Future die Schülerin, die erstmals verlangt, gehört zu werden, dann sind die Leute von Extinction Rebellion die Typen in der Raucherecke, die keine Kompromisse machen. XR, wie sich die Gruppe abkürzt, blockiert Brücken und Straßen, am besten über Tage.

Man wolle der Sand im Getriebe einer Wirtschaft sein, die die Existenz der Menschheit gefährde, hat XR-Gründer Roger Hallam gesagt und zu kompromisslosem Widerstand gerufen. Keinen Meter mehr der Verharmlosung. Keine Ausrede mehr, um Konsequenzen aufzuschieben.

Extinction Rebellion will keine Kompromisse beim Klimaschutz

Jetzt müsse gehandelt werden, sagt auch Marco Gergele. „Es gibt keine Alternative“, betont Bernd Müller. Solveig Lindner hat trotzdem Angst, „dass es nicht reicht, dass wir es nicht schaffen werden.“ Es sind alptraumhafte Wahrheiten, die Neulingen präsentiert werden, die zum ersten Mal zu einem der XR-Talks kommen, mit denen die Gruppen in aller Welt um Mitstreiter werben.

Grafiken zeigen die grassierende Erderwärmung. Fotos von Wüsten, Sturmfluten und brennenden Wäldern verdeutlichen die Dringlichkeit des Anliegens. „Sag die Wahrheit“, heißt der Teil der Strategie von Extinction Rebellion, der Bernd Müller schlagartig mit allem konfrontierte, „was ich bis dahin verdrängt hatte“. Marco Gergele ging es ähnlich. „Wenn einem klar wird, dass das alles nicht irgendwann stattfindet, sondern genau jetzt“, sagt er, „ist automatisch die Frage: Und was tue ich jetzt?“

Extinction Rebellion Halle: Gegen Klimakrise ist (fast) alles erlaubt

Kämpfen, rebellieren, nicht mehr still dulden, sondern schreien. Vielleicht hilft es am Ende nichts mehr, zweifelt Solveig Lindner. „Aber wenigstens hat man es versucht“, sagt Bernd Müller. Die Erzieherin, der Programmierer und der Lehrer, 47, 45 und 50 Jahre alt, waren zuletzt bei den großen Blockaden in Berlin dabei, als Wochenend-Aufständische, die sich zwar nicht wie andere XR-Rebellen einbetonierten, um zu blockieren. „Aber dem Polizisten sage ich schon: ,Nee, ich kann hier nicht weggehen, solange die Bundesregierung unsere Kinder ermordet‘“, fasst Marco Gergele zusammen.

Alles ist erlaubt, wenn der Weltuntergang aufzieht und kommende Wirtschaftskrisen und Klimanotstände die Zukunft bedrohen. Dass XR-Mitbegründer Roger Hallam den Holocaust kürzlich „nur einen weiteren Scheiß in der Menschheitsgeschichte“ nannte, fällt aus Sicht der halleschen XR-Gruppe allerdings nicht darunter. Auch der Kampf gegen die Erderwärmung könne eine solche Aussage nicht rechtfertigen, sagen sie.

Für die Bewegung zur gewaltfreien Rebellion gegen den langsamen Klimatod der Menschheit sei Hallam jedoch sowieso eher als Inspirator denn als Anführer wichtig. “Er war und ist nicht unser Guru“, betont Marco Gergele, der wie seine Mitstreiter von der Idee des Aufstandes gegen das stille Weiterso entzündet wurde, nicht von den Personen, die sie in die Welt gesetzt haben.

Extinction Rebellion: Aktivisten aus Halle wollen mehr

„Jeder von uns hat versucht, seinen Teil zu tun, um die Katastrophe abzuwenden“, formuliert Bernd Müller, „wir haben bei Demos gestanden und Petitionen unterschrieben.“ Gergele lebt seit Anfang der 90er autofrei, Lindner fährt nur Zug und Fahrrad, Müller kauft regional und bio. Und alle waren schon immer engagiert, in Umweltgruppen, bei Attac, in feministischen und veganen Initiativen, gegen Hartz IV. „Trotzdem bin ich nie das Gefühl losgeworden, es reicht nicht, du musst mehr machen“, sagt Solveig Lindner.

Die Idee von Extinction Rebellion hat sie alle drei aus der Verzweiflung gerissen, „zuzusehen, wie alles vor die Hunde geht, und nichts tun zu können“, beschreibt Müller. Schon die von der Schwedin Greta Thunberg initiierte Schülerstreikbewegung Fridays for Future habe ihn ja elektrisiert, sagt Marco Gergele. „Aber ich bin erwachsen, ein Schülerstreik ist einfach nicht mein Format.“ Als er dann die Bilder von den ersten XR-Blockaden in London sah, war er fasziniert. „Die haben zehn Tage die ganze Stadt stillgelegt, und die Blockierer haben friedlich getanzt und gesungen.“

Extinction Rebellion Halle mit vielen Ideen für den Klimaschutz

Vielleicht geht auf diese Weise etwas, hat auch Bernd Müller gedacht. „Vier Jahre haben wir noch Zeit“, sagt Gergele, „also muss die Gesellschaft sich ganz schnell eingestehen, dass wir ein Problem haben.“ Bernd Müller vergleicht das Verhalten der Gesellschaft mit einem Alkoholabhängigen. „Der bestreitet, dass es ein Problem gibt, weil er Angst vor dem Entzug hat.“ Doch wer zu lange leugne, sterbe daran. „Je länger wir warten, desto geringer wird doch der Spielraum, in dem wir den Wandel noch selbst gestalten können.“

Wohin es genau gehen muss, ist dabei auch den Leuten von XR noch nicht ganz klar. „Wir haben jede Menge Ideen“, sagt Marco Gergele und nennt kostenlosen Nahverkehr, den Rückbau von Straßen und Solaranlagen auf Schuldächern als Beispiele. „Aber klar ist, dass die Gesellschaft mitziehen muss, weil es sonst nicht funktioniert“, ergänzt Solveig Lindner, die auf soziale Ausgleichsmaßnahmen für Belastungen verweist, die der Umbau der Wirtschaft weg von Wachstum und Ressourcenverbrauch mit sich bringen wird.

Extinction Rebellion Halle hofft auf viel mehr Teilnehmer bei Aktionen

3,5 Prozent der Bevölkerung, so rechnen XR-Mitglieder Neulingen bei den Kennenlern-Talks vor, reichten in der Geschichte immer aus, eine Revolution auszulösen und korrupte Regime zu stürzen. In Deutschland wären das drei Millionen Menschen, haben sie bei XR überschlagen. Das ist viel, aber nicht unerreichbar. „Wir müssen aufrütteln, um so viele zu werden“, sagt Bernd Müller, der davon träumt, Berlin schon im nächsten Frühjahr mit 20.000 oder 30.000 XR-Rebellen völlig lahmzulegen. „Wir müssen diese Bundesregierung knacken“, sagt Marco Gergele. „Und das Wirtschaftssystem umbauen“, sagt Solveig Lindner. „Das ist leider ein bisschen komplizierter, als einen Diktator davonzujagen“, ist Bernd Müller sicher. (mz)

„Sagt die Wahrheit“, fordert Extinction Rebellion.
„Sagt die Wahrheit“, fordert Extinction Rebellion.
SA Extinction rebellion