Exklusiv-Geschichte für MZ Exklusiv-Geschichte für MZ: Von Zorn-Autor Stephan Ludwig: Drei Ossis auf dem Weg nach Hamburg

„Scheiße.“ Beppos Finger umklammerten das Lenkrad. „Ich glaub, wir haben uns verfahren.“
„Na und?“ Kosmo, der Junge auf dem Beifahrersitz, hob grinsend die Schultern. „Hauptsache, wir sind im Westen.“
Der Motor des klapprigen Shiguli röhrte, die Scheinwerfer bohrten sich in die Nacht. Nebel waberte über der Fahrbahn. Knorrige Alleebäume säumten die Landstraße, reckten die knorrigen Äste in die Nacht wie die gichtigen Finger alter Männer.
„Pennst du?“
Beppos Worte waren an den Dritten im Bunde gerichtet, an Jan, der hinten auf der Rückbank saß.
„Nee. Gibst du mir noch ’n Bier?“
Kosmo beugte sich vor, kramte aus einem Rucksack zwischen seinen Beinen zwei Flaschen hervor und reichte eine nach hinten.
„Prost, Alter.“
Seit sie die Grenze passiert hatten, war eine halbe Stunde vergangen.
„Ich fass es nicht“, murmelte Beppo. „Die wollten nicht mal unsere Ausweise sehen.“
„Vor drei Tagen“, Jan öffnete sein Bier, „hätten sie uns noch erschossen.“
Eine Weile fuhren sie schweigend durch die Nacht. Drei Freunde, kaum älter als zwanzig, die vor drei Jahren das Abitur gemacht hatten. Jan, der Streber, mit Auszeichnung. Beppo und Kosmo waren irgendwie durchgerutscht. Trotzdem mochten sie sich, schon im Kindergarten waren sie unzertrennlich gewesen.
„Mist.“ Beppo drosselte das Tempo.
„Was ist?“, fragte Kosmo.
„Das Kühlwasser.“ Beppo deutete auf die Temperaturanzeige. „Der verdammte Kühler ist undicht.“
„Fahr einfach weiter.“
„Spinnst du? Mein Alter bringt mich um, wenn mit der Kiste was passiert.“
Niemand widersprach. Beppo war schon immer der Anführer gewesen, schließlich war er einen halben Kopf größer als die anderen, außerdem ein paar Monate älter. Und er hatte den Shiguli seines Vaters besorgt. Beppo war es auch gewesen, der den Trip geplant hatte. Zwei Tage nach der Maueröffnung herrschte immer noch Chaos, das war ständig in den Nachrichten zu sehen. Also waren sie um Mitternacht losgefahren, und im Morgengrauen würden sie ihr Ziel erreichen.
Hamburg.
Sie würden den Hafen besuchen. Den Fischmarkt. Zum ersten Mal in ihrem Leben Ebbe und Flut sehen. Das Hotel, in dem Lindenberg lebte. Die Plattenläden abklappern. Und natürlich die Reeperbahn.
„Alter.“ Kosmo leerte sein Bier, verzog das Gesicht und wischte den Schaum von den Lippen. „Das schmeckt dermaßen beschissen.“
„Pisswarm“, erklärte Jan vom Rücksitz.
„Meisterbräu“, sagte Beppo, „schmeckt immer beschissen. Egal, ob’s kalt oder warm ist.“
Links und rechts zogen Weizenfelder vorbei. Scheunendächer glänzten im Mondlicht. Ein blaues Schild leuchtete in der Dunkelheit auf. Beppo blinkte, schaltete einen Gang hinunter. Das Getriebe reagierte mit einem empörten Kreischen. Bremsen quietschten, der Shiguli stoppte an einer Tankstelle.
Sie stiegen aus.
Warum eine West-Tankstelle die Jungs aus dem Osten nervös macht
„Hey“, knurrte Beppo, als Kosmo die Beifahrertür schwungvoll schloss. „Das ist kein Trabi.“
Kosmo reagierte mit einem nervösen Lachen. Sie alle waren nervös. Da standen sie auf dem glänzenden Asphalt, drei dünne Gestalten in Shell-Parkas, Wildlederschuhen und Jeans, die sie wie ihre Augäpfel hüteten, im gleißend blauen Licht und betrachteten mit großen Augen die blitzenden Zapfsäulen, die riesigen, grell angestrahlten Fenster, einschüchternd und verlockend zugleich, wie die Welt, die sich dahinter verbarg.
„Das ist keine Tankstelle“, murmelte Kosmo. „Das ist ’n Weltraumbahnhof.“
Das unwirkliche blaue Licht spiegelte sich in den Gläsern seiner Nickelbrille. Ebenso wie Beppo trug er sein Haar lang, in der Mitte gescheitelt, die Strähnen hinter die Ohren gesteckt. Auch Jan war früher so rumgelaufen. Bis er zur Armee gekommen war. Jetzt, einen knappen Monat nach seiner Entlassung, waren sie immer noch viel zu kurz für jemanden, der auf Gundermann und Engerling stand. Aber das war nicht zu ändern. Immerhin, seinen Ohrring trug er wieder, ebenso wie das geliebte Fleischerhemd.
Eine Minute verging, bis Beppo wie gewohnt das Kommando übernahm.
„Okay, Jungs.“ Sein Atem dampfte in der Nachtluft. „Dann wollen wir mal.“
Die Glastüren glitten zischend beiseite, blinzelnd betraten sie den Verkaufsraum. Wärme schlug ihnen entgegen und ein Geruch, der ihnen buchstäblich den Atem nahm. Sie alle kannten diesen Duft, jeder von ihnen hatte schon einmal ein Westpaket geöffnet, doch hier war es stärker, komprimiert. Seife, Parfum, Apfelsinen. Kaffee, Kaugummi und Waschmittel. Süßlich, verlockend. Und irgendwie ebenso einschüchternd wie die grelle, in allen Farben leuchtende Einrichtung: Die aufgereihten Getränkedosen in den Kühlschränken. Die bunten Zeitschriften. Die Süßigkeiten. Die leuchtenden Neonreklamen an den Wänden.
„Kann ich euch helfen?“
Der junge Mann hinter dem Tresen musterte sie unter gesenkten Brauen. Er war ungefähr in ihrem Alter, der norddeutsche Akzent war unverkennbar. Er trug einen Schnauzbart, ein Kugelschreiber blitzte in der Brusttasche des blauen T-Shirts mit dem Aral-Schriftzug.
„Ja.“ Beppo räusperte sich. „Wir wollten ...“
„Ihr kommt von drüben.“
„Ja. Und wir ...“
„Falls ihr tanken wollt, wir haben nur Super und Diesel, kein Gemisch.“
„Der Shiguli“, Beppo straffte sich, „ist ein Viertakter. Der braucht kein Gemisch. Abgesehen davon wollen wir auch nicht tanken.“
Er hatte die Strecke genau geplant. Natürlich würde der Sprit nicht für die Rückfahrt reichen, doch die beiden rostigen Zehn-Literkanister im Kofferraum waren mehr als genug.
„Sondern?“
Der junge Mann hatte sich merklich entspannt. Falls er die drei für nächtliche Einbrecher gehalten hatte, musste die Tatsache, dass sie aus dem Osten kamen, ihn aus irgendeinem Grund vom Gegenteil überzeugt haben.
„Wir brauchen Wasser“, sagte Beppo. „Kühlwasser.“
„Draußen, in den Kannen bei den Zapfsäulen.“
„Ich ...“ Kosmo nahm die beschlagene Brille ab, wischte die Gläser sauber. „Ich müsste mal aufs Klo.“
„Da hinten, die Tür neben dem Kaffeeautomaten.“ Kosmo verschwand zwischen den Regalen.
„Was kostet der?“ Jan legte einen Schokoriegel auf den Tresen.
Der Schnauzbärtige warf einen Blick auf die golden glänzende Verpackung. „Eins neunundzwanzig.“
„Okay“, nickte Jan und öffnete seinen Brustbeutel.
„Lass mal. Geht aufs Haus.“
„Nicht nötig.“
Jan kramte ein Fünfmarkstück hervor. Achselzuckend öffnete der junge Mann die Kasse, reichte Jan das Wechselgeld. Beppo nahm seinen Arm, zog ihn ein Stück beiseite.
Ein Riegel für mehr als zehn Ostmark
„Das waren über zehn Ostmark“, zischte er. „Für einen dämlichen Riegel. Er wollte ihn dir schenken. Wieso nimmst du’s nicht an?“
„Ich bin kein Bittsteller.“ Jan verstaute den Brustbeutel unter dem Parka. „Abgesehen davon ist es mein Geld.“
Laut Beppos Plan würden sie gegen acht Uhr in Hamburg sein. Um diese Zeit öffneten die Banken, genau richtig also, um das Begrüßungsgeld abzuholen.
„Seid ihr zum ersten Mal hier?“, fragte der Mann hinter dem Tresen.
„Ja“, nickte Beppo.
„Und?“ Ein Lächeln. „Wie ist es so?“
„Naja.“ Beppo überlegte einen Moment. „Ganz schön ...“
„... bunt“, half Jan.
Kosmo erschien zwischen den Regalen.
„Das Klo ist kaputt.“ Er strich das blonde Haar hinter die Ohren. „Der Wasserhahn, genauer gesagt.“
„Da ist ein Sensor“, lächelte der Schnauzbärtige. „Du musst die Hände unter dem Hahn bewegen. Sowas kennt ihr im Osten nicht, oder?“
„Klar kennen wir das.“
Kosmo war ein schlechter Lügner, seine Wangen wurden flammend rot.
„Naja“, sagte Beppo. „Wir müssen dann mal weiter.“
Das wollen die Jungs mit dem Begrüßungsgeld machen
Als sie die Tankstelle verließen, erschien das erste, zarte Rosa am Horizont. Beppo hatte nach dem Weg gefragt und erfahren, dass sie auf der richtigen Strecke waren. Sie fuhren durch schmucke Dörfer, der Verkehr nahm zu. Autos kamen ihnen entgegen, funkelnde, futuristisch anmutende Gefährte. Beppo saß hinter dem Steuer und kommentierte die Marken: VW. Audi. Opel. Mercedes.
„Es reicht“, meldete sich Jan vom Rücksitz. „Wir sind nicht bescheuert, wir kennen die Kisten.“
Niemand hatte ein Auge zugemacht, doch müde waren sie nicht. Die drei waren aufgekratzt wie Kinder am Heiligabend vor der Bescherung.
„Was macht ihr mit der Kohle?“, fragte Beppo.
Die anderen beiden zuckten die Achseln.
„Hundert D-Mark Begrüßungsgeld, das sind über tausend Ostmark. Ich werd’s tauschen. Und du“, er wandte sich an Kosmo, „solltest das auch tun. Das ist mehr, als du im Monat verdienst.“
Kosmo arbeitete als Kulissenschieber am Theater. Eigentlich hatte er Architektur studieren wollen, doch er war abgelehnt worden. Sicherlich, sein Abi war nicht gerade herausragend gewesen, doch der Hauptgrund, hatte ihm sein Staatsbürgerkundelehrer eröffnet, lag neben seinem Haarschnitt vor allem in seinem unzureichend gefestigten Klassenstandpunkt.
„Vielleicht kauf ich mir ’nen Walkman“, erklärte er. „Oder ’ne Neil Young-Platte.“
Eigentlich hieß er Siegmund. Ein dämlicher Name, wie er fand, und so hatte er nichts dagegen gehabt, dass er seit dem Raumflug seines berühmten Namensvetters von allen „Kosmo“ genannt wurde.
„Die kannst du auf dem Schwarzmarkt für das Zehnfache verkaufen“, nickte Beppo.
Vor einem guten Jahr hatte er in Karl- Marx-Stadt ein Studium der sozialistischen Betriebswirtschaftslehre begonnen, später, so war der Plan, würde er den Malerbetrieb seines Vaters übernehmen.
„Und du?“, fragte er über die Schulter.
„Weiß nicht“, murmelte Jan einsilbig.
Der Shiguli zuckelte im Dämmerlicht durch die flache, dörfliche Landschaft. Ein Schild tauchte auf:
LÜNEBURG, 12 KM
Melbeck begrüßt seine „Brüder und Schwestern aus dem Osten“
„Wir sind bald da“, verkündete Beppo.
„Jemand noch ’n Bier?“, fragte Kosmo.
„Nee“, sagte Jan. „Kaffee wär mir lieber.“
Er beugte sich vor, reichte Kosmo die Hälfte seines Schokoriegels. Dieser biss ab, gab Beppo den Rest.
„Verdammt lecker“, stellte Kosmo kauend fest.
„Vor allem“, brummte Beppo, „verdammt teuer.“
Er bremste am Ortseingangsschild eines weiteren Dorfes. Die Landstraße wurde von niedrigen Häusern flankiert, gepflegte Hecken zogen vorbei, akkurat aufgestellte Mülltonnen, sorgfältig gestutzte Rasen. Zwischen zwei Laternen war ein Plakat über die Straße gespannt: MELBECK GRÜSST UNSERE BRÜDER UND SCHWESTERN AUS DEM OSTEN!
„Ich muss pinkeln“, sagte Kosmo.
„Schon wieder?“ Beppo hob die Brauen. „Du warst doch gerade erst.“
„Hab mich nicht getraut. War mir irgendwie ... zu sauber.“
„Dann musst du noch ein bisschen warten. Piss bloß nicht ein und versau mir die Polster. Mein Alter ...“
„... jaja, der bringt dich um, wenn mit der Karre was passiert.“ Kosmo klang genervt. „Das wissen wir jetzt.“
Sie verließen das Dorf. Die Reifen des Shiguli knirschten, Schotter prasselte gegen die rostigen Kotflügel, als Beppo am Straßenrand hielt. Kosmo sprang augenblicklich aus dem Wagen.
„Ein historischer Moment!“, rief Beppo ihm durch die offene Beifahrertür nach. „Das erste Mal, dass du an einen Westbaum pinkelst!“
Kühle Luft strömte in den Innenraum.
„Krass.“ Er lehnte sich in die Kopfstütze, schloss die Augen. „Wir sind tatsächlich im Westen. Ich hab Schiss, dass ich das alles nur träume. Stell dir vor“, er sah nach hinten zu Jan, „wir wachen auf und liegen wieder in unseren Betten.“
„Dann wäre alles wie vorher.“
Jan sah aus dem Fenster. Kosmo stand mit hochgezogenen Schultern breitbeinig an der Böschung, sein Urin floss in dampfendem Bogen gegen den Stamm eines Apfelbaums.
„Was macht dein Vater jetzt eigentlich?“, fragte Beppo über die Schulter. „Du weißt schon, Stasi in die Produktion und so.“
„Mein Vater ist Parteisekretär!“ Jan hob die Stimme. „Der war nie bei der Stasi! Wir haben genauso Westfernsehen geguckt wie ihr! Außerdem ...“
„Schon gut.“ Beppo hob beschwichtigend die Hände. „Dein Alter ist okay, du hast ja recht.“
Kosmo schloss den Reißverschluss seiner Jeans, raffte fröstelnd den Parka vor der schmalen Brust und sprang wieder auf den Beifahrersitz.
„Weiter geht’s!“, strahlte er. „Auf ins gelobte Land, Leute!“
„Genau!“, grinste Beppo und hob die Hand. „Auf zum Klassenfeind!“
Sie klatschten sich ab.
Die Sonne ging auf.
Hamburg: Eine große unbekannte Welt für die drei Jungs aus dem Osten
Sie fanden einen Parkplatz am Millerntor. Beppo führte sie zu einer Sparkasse, wo sie das Begrüßungsgeld bekamen. An einem Kiosk kaufte er einen Stadtplan (eine teure, aber notwendige Investition, wie er fand), danach liefen sie durch die Stadt.
Keiner von ihnen hatte jemals damit gerechnet, seine kleine Welt jemals verlassen zu können. Jetzt waren sie hier. Sahen die Alster. Den Jungfernstieg. Die Speicherstadt. Rochen die nahe Nordsee. Betrachteten die blitzenden Auslagen in den Boutiquen, die überquellenden Regale. Alles war größer. Bunter. Weiter.
Staunend liefen sie durch diese große, unbekannte Welt, und obwohl sie versuchten, sich nichts anmerken zu lassen, wurden sie immer wieder erkannt. Eine ältere Dame bot ihnen Kaffee und Kuchen an (sie lehnten dankend ab), in einem Imbiss am Hafen wurden sie zum Essen eingeladen, zögerten zunächst, dann aßen sie das beste Frikassee ihres Lebens. Sie besuchten den (Kosmos Meinung nach) größten Plattenladen des Universums, liefen flüsternd zwischen den deckenhohen Regalen umher, und als Kosmo sich auch nach zwei Stunden nicht entscheiden konnte, ob er eine Pink Floyd-, Police- oder Neil Young-Platte kaufen sollte, wurde er von einem entnervten Beppo wieder hinaus befördert, um an der frischen Luft einen klaren Kopf zu bekommen. Eine halbe Stunde verbrachten sie vor der prunkvollen Fassade des Atlantic-Hotels, in der Hoffnung, womöglich einen kurzen Blick auf Udo Lindenberg zu erhaschen, bis Jan schließlich feststellte, dass Lindenberg tagsüber schlief, worauf sie sich mit schmerzenden Füßen ihrem nächsten Ziel zuwandten.
Auf der Hamburger Herbertstraße
„Muss das sein?“, fragte Jan.
Sie standen vor der Holzwand, die den Blick in die Herbertstraße versperrte.
ZUTRITT FÜR JUGENDLICHE UND FRAUEN VERBOTEN, war auf einem vergilbten Plakat zu lesen.
„Man muss es wenigstens mal gesehen haben“, sagte Beppo.
Er ging voraus, die anderen beiden folgten. Sie liefen durch die enge Gasse, die Hände in den Taschen ihrer Parkas vergraben. Ihre Blicke waren zu Boden gerichtet, nur aus den Augenwinkeln betrachteten sie die Schaufenster, hinter denen die Frauen in grellen Leggins nur undeutlich zu erkennen waren, und als sie eine knappe Minute darauf am anderen Ende aus der Absperrung traten, atmeten sie leise, aber unüberhörbar erleichtert auf.
„Das ist wie im Zoo“, murmelte Jan.
„Wenn’s dunkel ist“, sagte Beppo, „ist es bestimmt ...“
„... bunter“, beendete Jan.
„Trotzdem“, wiederholte Beppo, „man muss es mal gesehen haben.“
„Das haben wir ja jetzt.“
Sie sahen sich unschlüssig an. Es begann zu nieseln.
„Wir könnten“, Kosmo schob die Kapuze über den Kopf, „nochmal zum Plattenladen gehen.“
„Das ist nicht dein Ernst.“ Beppo verdrehte die Augen.
„Ich weiß jetzt, was ich mir hole.“
„Und was?“, fragten Beppo und Jan wie aus einem Mund.
„Grönemeyer.“ Kosmo kratzte sich an der Schläfe. „Oder Led Zeppelin. Vielleicht auch ...“
„Schon klar“, seufzte Beppo. „Los, wir machen uns weiter.“
Die drei kamen nicht weit, denn kurz darauf wurden sie angesprochen.
„Das ist ’n Bordell!“, zischte Jan. „Was machen wir hier?“
Auf der Herbertstraße: Wer war die Person, die die drei Jungs angesprochen hat?
Sie saßen in einer Nische auf einer gepolsterten Bank. Auf dem Tisch zwischen ihnen stand eine Plastikvase mit einer Kunstblume. Sie waren die einzigen Gäste, nur am anderen Ende des düsteren Raumes starrte ein glatzköpfiger Mann trübsinnig in ein halbvolles Bierglas. Die Luft war verqualmt, schwere, zerschlissene Samtgardinen hingen vor den Fenstern.
„So, Leute!“ Der Mann, der sie draußen angesprochen und hereingeführt hatte, tauchte auf, stellte eine Champagnerflasche und drei hochstielige Gläser auf den Tisch. „Besuch aus dem Osten, das muss gefeiert werden!“
Er strich das schüttere Haar aus der Stirn, zwinkerte ihnen zu und verschwand wieder im Halbdunkel. Irgendwo knackte ein Lautsprecher. Ein alter Schlager von Freddy Quinn erklang. Weiter vorn flammte ein Scheinwerfer auf, eine halbnackte Frau erschien, griff nach einer Metallstange in der Mitte eines runden Podestes und begann, sich langsam im Takt der Musik zu bewegen.
„Du nervst, Gertrud!“, rief der Glatzköpfige. Er lallte ein wenig.
Gertrud, die Frau an der Stange, ignorierte ihn. Gelangweilt wiegte sie sich in den Hüften, während Freddy Quinn La Paloma sang.
„Das war ’n Zuhälter!“ Jan sah sich unbehaglich um. „Der wollte ...“
„Ach komm“, beschwichtigte Beppo. „Der ist doch ganz nett.“
Absätze klapperten, drei grell geschminkte Frauen in hochhackigen Schuhen gesellten sich kichernd zu ihnen. Die Wortführerin, eine üppige Blondine mit einem Leberfleck über der Oberlippe, deutete auf die Gläser.
„Wollt ihr nichts trinken?“
„Nee“, murmelte Kosmo. „Wir ...“
„Also wir haben Durst“, erklärte die Blondine in breitem Hanseatisch. „Ihr Ostler seid doch bestimmt gut erzogen und ladet uns ein?“
Die drei nickten verlegen, starrten auf ihre Hände, während die Frauen, weiterhin unablässig kichernd, die Gläser füllten. Aus den Lautsprechern plärrte jetzt ein Schlager von Hans Albers. Der Glatzköpfige mit dem Bierglas lallte der Frau auf dem Podest zu, sie solle endlich ihre schlaffen Titten einpacken.
„Halt’s Maul, Eugen“, blaffte die Tänzerin und streifte den Büstenhalter ab.
Jan sah die anderen beiden an, formte lautlos zwei Worte: Raus hier.
„Na dann ...“ Beppo stand unbeholfen auf. „Wir müssten wieder los.“
Jan und Kosmo folgten seinem Beispiel. Wie aus dem Nichts tauchte der Mann mit dem schütteren Haar wieder auf.
„Klar doch, Jungs.“ Als er ihnen zulächelte, blitzte ein Goldzahn auf. „Ich mache nur noch schnell die Rechnung fertig.“
Werden die drei Jungs die Rechnung begleichen können?
Dreihundert Mark“, murmelte Beppo. „Alles weg.“
„Westmark“, korrigierte Kosmo.
Sie standen auf dem Bürgersteig. Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss. Die Dämmerung setzte ein. Der Regen war stärker geworden, funkelte auf den Limousinen, die über die Reeperbahn zischten. Neonreklamen flackerten, spiegelten sich in den Pfützen auf dem Asphalt.
„Tut’s weh?“
Kosmo deutete auf Beppos geschwollene Oberlippe.
„Geht so.“ Beppo leckte etwas Blut aus dem Mundwinkel.
„Du hättest nicht mit ihm diskutieren sollen“, sagte Kosmo.
Beppo antwortete nicht.
„Und?“, fragte er stattdessen. „Was machen wir jetzt?“
Eine Weile standen sie frierend im Regen. Es war Kosmo, der als erster das Wort ergriff: „Ich will nach Hause.“
Jan strich sich das nasse Haar aus der Stirn.
„Ich auch“, sagte er. „Ich auch.“
Diese Geschichte hat Stephan Ludwig exklusiv für die Mitteldeutsche Zeitung zum 30-jährigen Mauerfall-Jubiläum geschrieben. Ludwig ist Schriftsteller und hat den TV-Komissar Zorn erfunden. Zorn ist eine TV-Krimireihe nach Ludwigs Romanen, die in der Stadt Halle (Saale) spielt. (mz)