1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Halle
  6. >
  7. Erzählen als Heilmittel: Erzählen als Heilmittel: So verarbeiten Hallenser ihre dramatische Familiengeschichte

Erzählen als Heilmittel Erzählen als Heilmittel: So verarbeiten Hallenser ihre dramatische Familiengeschichte

Von Detlef Färber 16.12.2019, 13:15
Mutter und Sohn als Herz des Projekts: Die Ärztin Dr. Ingrid Ursula Stockmann und Bernd Stockmann haben den Stockwärter-Verlag gegründet.
Mutter und Sohn als Herz des Projekts: Die Ärztin Dr. Ingrid Ursula Stockmann und Bernd Stockmann haben den Stockwärter-Verlag gegründet. silvio Kison

Halle (Saale) - Es gibt sie, die Verluste, die immer weiter wirken können. Und es gibt die Wunden, die weiterhin schmerzen, auch wenn jene, die den Verlust erlitten haben, schon gar nicht mehr da sind. Ingrid Ursula Stockmann hat mit solchen Traumata auch beruflich zu tun. „Transgenerationale Übertragung“ nennt man dergleichen, so weiß die hallesche Nervenfachärztin und niedergelassene Psychotherapeutin.

Drama und Schicksalsschläge hat eine Lücke in die Familiengeschichte gerissen

Doch weiß sie dies nicht nur aus ihrer beruflichen Praxis, sondern auch als Betroffene. Denn ihrer eigenen, erst in diesem Jahr verstorbenen Mutter Anni Margot Skorupa ist ein Familiendrama widerfahren, das sie (als 16-jähriges Mädchen damals) innerhalb weniger Wochen zur Vollwaise gemacht hat - und zugleich auch mit zur Betreuerin ihrer drei Geschwister im Alter von zwölf, zehn und sieben Jahren.

Anni Skorupas Tochter Ursula Stockmann, die als Enkelin von Elly Jäger nun Mittelpunkt der verbliebenen Familie ist, weiß um eine wirksame Methode, mit den weiterwirkenden Traumata umzugehen. Diese Methode steht nicht jedem zur Verfügung - ihrer Familie aber schon.

Elly Jäger, eine Widerstandskämpferin in der Hitler-Zeit, ist kurz vor ihrem 45. Geburtstag und kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs am 27. April 1945 zu Tode gekommen. Recherchen zufolge soll sie auf dem Weg von der Arbeit nach Hause russischen Kriegsgefangenen geholfen haben und dafür von Nazis erschossen worden sein.

Sie hinterließ ihre sechs Kinder im Alter zwischen sieben und 22 Jahren, die damit zu Waisen wurden, denn Elly Jägers Mann war bereits drei Monate zuvor getötet worden.

Denn eine bereits über Generationen angelegte und gepflegte, vielgestaltige musische und kreative Begabung ermöglicht einen letztlich auch heilsamen Zugriff auf verschüttete Erinnerungen - sprich auf das, was die Familie auch jetzt noch bewegt und was eine nicht zu schließende Lücke in die Familiengeschichte gerissen hat.

Hallesche Familie schreibt und verlegt Bücher über Familiengeschichte

Das Heilmittel heißt Erzählen. Und mit dieser von gleich sieben Familienmitgliedern beherrschten Kunst hat etwas angefangen, das in diesem Umfang weit und breit wohl einmalig sein dürfte. Die Familie von Ursula Stockmann schreibt Bücher und hat nun begonnen, sie auch selbst zu verlegen. Insgesamt 20 bereits fertige entstammen diesem wohl beispiellosen familiären Kreativpool.

Und weitere sind schon in der Pipeline, sprich im Stadium der Produktion. „Stockwärter-Verlag“ heißt das Projekt übrigens, das von Bernd Stockmann, einem der Söhne Ingrid Ursula Stockmanns, geleitet wird und mit dem er demnächst ein neues Büro in der Silberhöhe beziehen will.

Gedichtsammlungen, Kinder- und Familienbücher zur Reflexion der erlebten Geschichte

Geplant sind in erster Linie Familienbücher, zu denen natürlich auch Kinderbücher gehören - aber vor allem Werke (zum Teil sogar Lebenswerke) von Autoren, die das Schreiben durch ihr ganzes Leben getragen hat: als Reflexion des eigenen Weges und der erlebten Geschichte, gerade auch mit besonderem Augenmerk auf die eigene Herkunftsregion.

Ein solches Buch von einer Dichterin namens Alexandra von Wahl ist unter dem Titel „Es war einmal im Zschopautal“ gerade erst jüngst herausgekommen - als eine Sammlung von zuvor nur handschriftlich vorhanden gewesenen Gedichten und Balladen, die unter anderem von ihrer Familie, den Ärzten Rosemarie und Claus Drunkenmölle, entziffert und so auch als ein Zeitdokument gerettet worden waren.

Eigene Familie soll beim neuen Verlag im Vordergrund stehen

So will der Verlag auch andere derartige heimat- wie familiengeschichtliche Projekte veröffentlichen helfen. Vor allem aber die der eigenen Familie, wie etwa die von Ingrid Stockmanns Söhnen Martin und Bernd und ihrer Schwester Margit S. Schiwarth-Lochau. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das „Gedichtduell“ zwischen Ingrid Stockmann und ihrer Mutter, das unter dem Titel „Auf Nilpferde hört man nicht“ schon vor drei Jahren in einem anderen Verlag erschienen war.

Darin findet sich ein Vers, in dem Elly Jägers Tochter Anni Margot Skorupa, die im Jahr des Kriegsendes als 16-Jährige gleich auf mehrere Weise traumatisiert worden war, den weiter wirkenden Schrecken (samt ihrem Umgang damit) in folgende, eindrucksvolle Worte fasste: „Mich deucht, / man sollte eine Mixtur erfinden, / nach deren Trank / alle schlechten Gedanken / wie böse Scheusale verschwinden ...“ Zumindest ansatzweise - wenn auch nicht als Trank - hatte Ingrid Ursula Stockmanns Mutter eine solche Mixtur zwar nicht erfunden, sondern für sich als Heilmittel gefunden. Es war die Schreibtinte.

››Infos unter: www.stockwärterverlag.de (mz)

Elly Jäger wurde noch 1945 zum Opfer des Faschismus.
Elly Jäger wurde noch 1945 zum Opfer des Faschismus.
MZ