Ermittlungen zur toten Studentin Ermittlungen zur toten Studentin: Rechtsmediziner kritisiert Polizei und Staatsanwalt

Halle (Saale)/MZ - Die Szenerie könnte aus jedem x-beliebigen Krimi stammen: Ein trüber Nachmittag im Spätwinter. In einem Fluss treibt eine Frauenleiche. Eine junge Frau, ihr Unterleib ist unbekleidet. In jedem x-beliebigen Krimi würden jetzt zwei Kommissare aus dem Nebel auftauchen und ohne viel Nachdenken den Verdacht äußern, es handele sich um ein Gewaltverbrechen.
Doch es handelt sich eben nicht um einen x-beliebigen Krimi. Sondern um eine Szene an einem Nebenarm der Saale in Halle, in dem an diesem Freitagnachmittag im Februar die Leiche der 29-jährigen Mariya N. gefunden wird. Weder die Polizeibeamten vor Ort noch der für die erste Leichenschau hinzugerufene Mediziner kommen auf die Idee, es könnte sich um ein Verbrechen handeln. Es gebe keine Hinweise auf Fremdverschulden, heißt es in einer ersten Mitteilung der Polizei.
Für den Chef der Rechtsmedizinischen Institute in Halle und Magdeburg, Professor Rüdiger Lessig, ein Unding: „Zu sagen, es gebe kein Fremdverschulden, ist fahrlässig.“ Ein Fremdverschulden könne nur durch eine ordentliche Leichenschau, im Zweifel in der Rechtsmedizin, ausgeschlossen werden. Dass diese erste Leichenschau jedoch nach allen Regeln der Kunst am Fundort der Leiche stattgefunden hat, daran hat Lessig erhebliche Zweifel.
Denn der hallesche Mediziner, der den toten Körper der BWL-Studentin am Fundort untersucht, kommt zu einem überraschenden Ergebnis: Der Arzt kreuzt zwar im Totenschein den Punkt „nicht natürlicher Tod“ an, fügt aber handschriftlich hinzu: Vermutlich Tod durch Ertrinken, Herzinsuffizienz. Das erweckt den Eindruck, es handele sich um einen Unfall. Es ist eine Fehldiagnose.
Schaumpilz im Mund
Beim Tod durch Ertrinken haben die Opfer oft einen sogenannten Schaumpilz im Mund - feinporiger Schaum aus Wasser, Luft und Schleim. Mariya N. wies einen solchen Schaumpilz jedoch nicht auf. „Spätestens da hätten die Alarmglocken schrillen können“, sagt Lessig. Denn ohne Schaumpilz kein eindeutiger Hinweis auf Ertrinken. Dies lässt zwei Thesen zu: Entweder hat der Mediziner der Toten vor Ort nicht in den Mund geschaut - oder aber den fehlenden, eindeutigen Hinweis ignoriert. „Das Bestattungsgesetz schreibt aber vor, dass bei einer Leichenschau alle Körperöffnungen zu kontrollieren sind“, sagt Lessig.
Ein Fehler, wie er bei Leichenschauen oft vorkommt - der Fall Mariya N. ist keine Ausnahme, sondern eher die Regel. In Deutschland wird wohl in keinem Bereich der Medizin so geschludert wie bei der Begutachtung von Toten. Nach einer Studie der Universität Münster kommt es daher jährlich „zu mehr als 11.000 übersehenen, nicht natürlichen Todesfällen, darunter mindestens 1.200 nicht erkannte Tötungsdelikte“.
Lessig wundern die Zahlen nicht: Allein in den drei von seinem Institut betreuten Krematorien in Halle, Gröbers und Eisleben sind es in den vergangenen Jahren zwischen 835 und 1.170 Fälle pro Jahr gewesen, wo erst bei der zweiten Leichenschau unmittelbar vor der Einäscherung der Hinweis auf einen unnatürlichen Tod entdeckt wurde.
Die Gründe sind vielfältig: Es beginnt mit dem Tod an sich - damit endet für die Krankenkassen die Zuständigkeit. Für Mediziner, die Leichenschauen vornehmen, bedeutet dies zusätzlichen Aufwand: Es muss eine Rechnung geschrieben und den „Bestattungspflichtigen“ zugeleitet werden. Nicht unbedingt ein Anreiz für Sorgfalt: So wird oft der zu begutachtende Leichnam nicht einmal vollständig entkleidet, wie es laut Bestattungsgesetz vorgeschrieben ist. „Was meinen Sie, wie viele Handwerker ich in ihrer Berufsbekleidung im Sarg habe liegen sehen. Glauben Sie, dass die Bestatter die alle wieder fein säuberlich angezogen haben“, fragt Lessig rhetorisch. Im Fall Mariya N. erfolgte allerdings die komplette Entkleidung.
Es geht weiter bei der Ausbildung künftiger Mediziner, bei denen sich gerade ein Semester mit der Rechtsmedizin beschäftigt und der Programmpunkt „Leichenschau“ sehr akademisch abgehandelt werde, sagt Lessig. Viele Ärzte etwa hätten sogar Schwierigkeiten, einen Totenschein richtig auszufüllen. Nicht irgendein Papier, sondern eine Urkunde. Mithin eine fehlerhafte Ausstellung sich gefährlich nahe dem strafrechtlich relevanten Bereich der Urkundenfälschung nähert. Zwar bieten viele rechtsmedizinische Institute Weiterbildungen für Ärzte an, „doch da kommen immer dieselben“, berichtet Lessig.
Bereits im Jahr 2011 antwortete die Landesregierung mit einem klaren „Ja“ auf eine Kleine Anfrage der Landtagsabgeordneten Eva von Angern (Linke), ob fehlende Erfahrung und mangelnde Fortbildung Ursache für das Übersehen von tatsächlichen Todesursachen sind. „Passiert ist seither jedoch nichts“, sagt von Angern. Weder sei es zur angekündigten Verbesserung bei der Aus- und Fortbildung der Mediziner gekommen, noch sei das Bestattungsgesetz zugunsten einer fachlich fundierten Leichenschau geändert worden.
Lessig bestätigt das und beklagt eine Kleinstaaterei bei den Bestattungsgesetzen in Deutschland. In Sachsen-Anhalt etwa ist eine zweite Leichenschau - anders als etwa in Bayern - vor der Beisetzung zwar Vorschrift. Doch die kann faktisch von jedem Mediziner vorgenommen werden. In Sachsen hingegen dürfen dies nur Fachärzte für Rechtsmedizin oder „auf dem Gebiet erfahrene Ärzte“ erledigen. Lessig erklärt, er wolle zwar niemandem etwas unterstellen: „Aber für eine zweite Leichenschau im Krematorium braucht es Erfahrung und einen gewissen Blick“.
Dieser „gewisse Blick“ aber, der wohl mehr eine Ahnung, denn ein tatsächliches Sehen ist, fehlt offenkundig jenem Arzt, der die Leiche von Mariya N. als erster untersuchte. Statt, wie in solchen unklaren Fällen üblich, die Leichenschau zu unterbrechen und das zuständige Fachkommissariat der Polizei und einen Rechtsmediziner anzufordern, beenden Arzt und Beamte vor Ort ihre Arbeit. Erst vier Tage später liegt Mariya N. als Routinefall auf dem Obduktionstisch der Rechtsmedizin in Halle. Ohne besondere Dringlichkeit und so gesehen noch recht schnell. Doch bereits ohne Obduktion kommen die halleschen Rechtsmediziner zu dem Schluss, dass mit dem Leichnam „ganz offensichtlich etwas nicht stimmt“, so Lessig. Und ein Fremdverschulden eben nicht von vornherein ausgeschlossen werden konnte.
Der Chef der halleschen Staatsanwaltschaft, Klaus Wiechmann, muss denn auch unmittelbar nach der Obduktion, aber erst am Tag fünf nach Entdeckung des Leichnams einräumen, dass Mariya N. erwürgt wurde. Dem Arzt der ersten Leichenschau, so Wiechmann auf Nachfrage, könne man keinen Vorwurf machen. Warum eigentlich nicht? Dafür liefert Wiechmann gleich eine Erklärung mit, warum die Frau mit unbekleidetem Unterleib gefunden wurde: „Das kann auch das Ergebnis der Wasserströmung gewesen sein.“ Mag sein. Aber läge der Verdacht einer Vergewaltigung nicht näher?
Tatort Joggingstrecke
Erst viel später räumt die Staatsanwaltschaft die zu diesem Zeitpunkt längst rechtsmedizinisch bestätigte Vergewaltigung denn auch ein. Inzwischen steht auch fest, dass die Tat unmittelbar in der Nähe des Fundortes begangen wurde. An der Joggingstrecke von Mariya N., an der täglich dutzende Frauen unterwegs sind. Während der Mann, der Mariya N. getötet hat, weiter auf freiem Fuß ist.
Wiechmann vermittelt derweil den Eindruck, dass alles, was zwischen Freitag und Dienstag an kriminalistischen Untersuchungen am Leichnam und am Fundort selber versäumt wurde, mit der späteren Obduktion und Spurensicherung habe nachgeholt werden können.Lessig widerspricht vehement: „Was beim ersten Angriff versäumt wurde, kann man mit einem zweiten Angriff nicht mehr nachholen.“

