Eine willkommene Ablenkung Eine willkommene Ablenkung: Flüchtlinge kehren Laub in Halle-Neustadt

Halle (Saale) - Sechs syrische Flüchtlinge aus einer Gemeinschaftsunterkunft in Neustadt haben in den vergangenen Tagen dem Laub den Kampf angesagt. Zuerst befreiten sie den Gehweg vor der eigenen Unterkunft in der Wolfgang-Borchert-Straße von Blättern, dann wurde einmal ums Haus gekehrt und rings um die Grundschule. Jetzt sind Rasenflächen dran.
„Uns tut es gut, an der frischen Luft etwas Sinnvolles zu machen“, sagt Faraj. Zusammen mit anderen Flüchtlingen wohnt er seit drei Wochen im Stadtteil. Vormittags geht es für den 26-Jährigen Englisch-Lehrer und die anderen zum Sprachkurs. Und dann? „Dann haben wir nichts zu tun.“ Aus den Medien und den Gesprächen mit Unterkunftsbetreiber Jan Hönig wissen sie, dass viele Anwohner anfangs Angst vor ihnen hatten. „Viele denken, wir wären kriminell“, sagt Faraj. Aber: „Das sind wir nicht.“ Allerdings gibt es auch Vorfälle, bei denen die Polizei einschreiten muss. Am Montag hatten sich 20 Syrer vor dem Neustadt-Centrum erst gestritten, dann geprügelt. Die Polizei musste einschreiten, es gab vier Verletzte. Die Hintergründe sind noch unklar.
"Paris ist in Syrien Alltag"
Faraj will eine andere Botschaft aussenden. „Wir wollen uns von Deutschland nicht durchfüttern lassen. Wir gehen gern arbeiten; viele von uns haben Medizin studiert oder sind Lehrer. Doch die politische Situation in Syrien ist gegen uns.“ Aus Angst vor Anschlägen verlassen deshalb so viele Syrer ihr Land. „Das, was in Paris passiert ist, ist seit Jahren in Syrien Alltag“, sagt Faraj, der vor drei Monaten mit dem Nötigsten aufgebrochen ist. Der 26-Jährige startete in Jarabulus, einer Stadt im Norden des Landes. Drei Gruppierungen bestimmen dort derzeit, wo es lang geht. Neben der Organisation Islamischer Staat (I.S.) belagern Kurden und die sogenannte Freie Syrische Armee die Region. „Ich habe mich dazwischen verloren gefühlt. Deswegen musste ich weg.“ 28 Tage war Faraj unterwegs. Vom Norden Syriens ging es über die Türkei und Mazedonien nach Europa.
Für andere hat die Reise länger gedauert. So wie für Ahmad. Der 20-jährige Wirtschaftsstudent brauchte sieben Monate. Er kam übers Meer. Die drei Stunden von der Türkei nach Griechenland - zusammen mit 40 Menschen in einem Boot - wird er nie vergessen: „Ich hatte die ganze Fahrt lang Angst, dass wir kentern. Die Wellen waren sehr hoch.“ Am Ende seiner Flucht nach Europa startete ein Flugzeug von der Insel Rhodos aus. Seitdem er in Halle ist, verarbeitet er die Reise, die ihn 6 000 Euro gekostet haben soll: „Das alles ist noch im Kopf.“ Und damit Faraj, Ahmad und den anderen nicht die Decke auf den Kopf fällt, haben sie ihrem Vermieter Hönig Hilfe angeboten. So kamen sie zum Laubharken.
„Wir haben alle die gleiche Geschichte“, erzählt Faraj. Jeder suche in Deutschland Schutz und Sicherheit und hat Träume für die Zukunft. Doch die Eindrücke der letzten Monate seien nicht einfach zu verarbeiten. Es reiche nicht, abends zusammen zu kochen und vormittags Deutsch zu lernen. Sich einzubringen fühle sich hingegen gut an. Doch so einfach ist rein gesetzlich nicht, sagt Hönig. „Die Syrer haben keine Arbeitserlaubnis - würden sie, wie sie angeboten haben, bei der Sanierung der Unterkunft im Nachbarhaus helfen, wäre das Schwarzarbeit.“
Dokumente fehlen
Keine gute Nachricht für die Syrer. Einige von ihnen sind ausgebildete Elektriker, andere studierte Ingenieure - doch für die Sanierung der nächsten Unterkunft in der Wolfgang-Borchert-Straße wurde bereits eine Firma beauftragt. Zudem fehlen den Syrern zum Teil Dokumente, die beweisen, dass sie ausgebildete Elektriker sind. Deshalb kamen sie auf die Idee, sich erst einmal um die vielen Blätter zu kümmern, die direkt vor ihrer Tür auf dem Gehweg lagen.
Gegen ehrenamtliche Tätigkeiten und spontanes Laubharken spricht auch rein gesetzlich nichts. Hönig hat es deshalb auch aufgegeben, überall eine Erlaubnis für den Einsatz der Syrer einzuholen. Oftmals haben Hauseigentümer für ihre Grünflächen und Blumenbeete vor der Tür einen Hausmeisterservice beauftragt. Darüber hinaus ist das Grünflächenamt der Stadt für bestimmte Abschnitte zuständig. Für Hönig ist es deshalb gar nicht so einfach, überall den richtigen Ansprechpartner zu ermitteln. „Jeden Meter wechseln die Zuständigkeiten. Der Stadt habe ich aber Bescheid gegeben.“
Eine sinnvolle Tätigkeit
Mit ihrem Einsatz sorgen die Syrer zusätzlich für Ordnung und gehen in vielerlei Hinsicht einer sinnvollen Tätigkeit nach. Zudem kommen sie mit Hallensern in Kontakt. Das hat auch Schuldirektor Peter Forstner erkannt und sich gefreut, als sich die Syrer um das Laub der Wolfgang-Borchert-Schule gekümmert haben. „Eigentlich ist dafür jemand anderes zuständig“, sagt der Schulleiter. „Aber wir haben eine Ausnahme gemacht. Die Kinder haben sich gefreut, denn sie konnten im Laub toben.“ Auch habe der Einsatz dazu gedient, Schüler und Flüchtlinge einander vorzustellen und mit Vorurteilen aufzuräumen.
Eltern der Schüler und Anwohner hatten sich im Vorfeld auf Informationsveranstaltungen skeptisch über die Unterbringung von 170 Flüchtlingen in insgesamt 48 Wohnungen in der Wolfgang-Borchert-Straße geäußert. Doch die Stimmung hat sich gebessert, seit Faraj und die ersten 80 Syrer vor etwa drei Wochen eingezogen sind. „Wir haben mitbekommen, was man über uns denkt“, sagt Faraj. Auch das sei ein Grund für das Arbeitsangebot gewesen.
Vorurteile verschwunden
Und die Rechnung geht auf: Die negative Stimmung in der Bevölkerung ist ins Positive umgeschwenkt. „Die Vorurteile der Nachbarn sind verschwunden“, sagt Hönig. Selbst die, die anfangs laut gegen die Flüchtlinge gewettert haben, hätten schon Sachspenden vorbeigebracht, erzählt er. Einige Neustädter hätten sogar Kinderbetreuung angeboten. Denn die syrischen Frauen aus der Unterkunft könnten nur zum Sprachkurs gehen, wenn jemand auf ihre Kinder aufpasst.
Das Problem mit der Kinderbetreuung haben Faraj und die anderen Männer, die mit ihm draußen sind, nicht. „Wir sind alle ohne Familie nach Deutschland gekommen“, übersetzt er. Einer von ihnen, Sofian, hat seine vier Kinder und deren Mutter nun volle vier Monate nicht gesehen. Sie haben im Libanon Schutz gefunden und wir stehen per Internet in Kontakt.
Das Laubkehren ist auch für den 41-jährigen Familienvater eine willkommene Ablenkung: Für einen Moment vergesse er dann, wie sehr er seine Familie vermisst.