1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Halle
  6. >
  7. Ehemaliger hallescher Jugenddiakon erzählt aus seinem Leben in der DDR

Verraten, verhaftet, verkauft Ehemaliger hallescher Jugenddiakon erzählt aus seinem Leben in der DDR

Verraten von seiner Kirche, vom SED-Staat verhaftet und verkauft: Der hallesche Jugenddiakon und Amtsleiter Lothar Rochau erzählt sein Leben.

Von Christian Eger Aktualisiert: 24.06.2021, 09:19
Thüringer in Sachsen-Anhalt: Lothar Rochau - Jugenddiakon, Jugendamtsleiter, Marathonläufer
Thüringer in Sachsen-Anhalt: Lothar Rochau - Jugenddiakon, Jugendamtsleiter, Marathonläufer (Foto: Maike Glöckner)

Halle (Saale) - Dreimal, schreibt Lothar Rochau, sei er von seiner Kirche verlassen worden. Zweimal vor, einmal nach dem Mauerfall. Das erste Mal 1982, als die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen auf Druck der SED-Führung den umtriebigen Jugenddiakon aus seinem Dienst in Halle-Neustadt entließ. Ein faktisches Berufsverbot, dem 1983 die Verhaftung wegen „staatsfeindlicher Hetze“, die Verurteilung und der Freikauf in den Westen folgte.

Das zweite Mal, als Rochaus Ost-Kirche 1984 eine kirchliche Anstellung im Westen verhinderte. Das dritte Mal, als er nach seiner sofortigen Rückkehr nach dem Mauerfall vergeblich in Halle um eine Neueinstellung bat. „Damit war ich nun also zum dritten Mal vor die Tür gesetzt worden.“

10.000 Seiten Stasi-Akte

In den ersten beiden Fällen spricht Rochau von Verrat. Zahllose Vertrauensbrüche im persönlichen Umfeld kamen hinzu, wie er heute aus mehr als 10.000 Seiten Stasi-Akten weiß. Insgesamt fast 100 Spitzel hatte der SED-Staat auf ihn angesetzt. Honecker und Mielke führten einen Schriftwechsel in seiner Sache.

Wie kommt man da raus? Wie lebt man damit? Es geht, indem man sich nicht zum Objekt der Umstände machen lässt. Und in Rochaus speziellem Fall, indem man läuft, buchstäblich. Das Marathon laufen hilft ihm, sich selbst in innerer Balance zu halten.

„Marathon mit Mauern“ heißt das gemeinsam mit Ines und Peter Godazgar verfasste Erinnerungsbuch, in dem der 68-Jährige „Mein deutsch-deutsches Leben“ erzählt. Ein Buch, das auch „Durch die Wand“ heißen könnte, denn die Wände einer sich selbst absolut setzenden Herrschaft zu durchbrechen, ist ein Grundimpuls im Leben des Mannes, der zu den namhaften DDR-Oppositionellen gehört.

Ran an den Rand

„Ich wollte mich einsetzen für Menschen, die in dieser Gesellschaft keine Lobby haben“, das ist Lothar Rochaus frühes Credo. Dass dieser Einsatz für ihn in der Evangelische Kirche begann, war keinesfalls selbstverständlich. 1952 im thüringischen Städtchen Weißensee, Landkreis Sömmerda, geboren, wuchs Rochau als Sohn eines Rundfunkmechanikers auf, der früh in die SED eingetreten war. Wenngleich auf Wunsch der Mutter getauft, blieb der Junge kirchenfern. Trotzdem konnte der Staat mit ihm nichts anfangen. Zu kritisch, zu wach, zu aktiv. Bereits im 16. Lebensjahr wurde der Schüler von der Stasi beobachtet. Und immer wieder aussortiert: Ran an den gesellschaftlichen Rand, wo die nicht Verwendungswilligen landeten.

Damit fand sich der gelernte Werkzeugmacher nicht ab, der während seines heillosen NVA-Grundwehrdienstes in Eggesin eher beiläufig den Weg zur Kirche fand. Die Lektüre der Bergpredigt zeigte ihm: „Die Dummheit würde nicht siegen.“ Aber wie? 1973 begann Rochau in den kirchlichen Neinstedter Anstalten eine vierjährige Ausbildung zum Diakon, einem kirchlichen Mitarbeiter.

Dessen Stunde schlug 1977 in Halle-Neustadt. Hier entfaltete der Jugenddiakon Rochau eine „Offene Arbeit“, die weit über Halle hinaus einzigartig war. „Offen“ hieß, ansprechbar für alle zu sein. Schon 1978 hatte Rochau pro Woche mit 200 Jugendlichen zu tun, zwischen 16 und 27 Jahre alt. „Alles was mit unserem Leben zu tun hat, gehört auch in die Offene Arbeit“, sagte der Mann, der damals noch langes Haar und einen Vollbart trug. Seine sogenannten Werkstatttreffen waren legendär.

SED und Kirche griffen ineinander

Im staatlichen Apparat schrillten die Alarmglocken. Die - auch mit Stasi-Mitarbeitern besetzte - Kirchenleitung folgte. Dass er ja nicht einmal von seiner eigenen Kirche geschützt werde, musste sich Rochau im halleschen Zuchthaus „Roter Ochse“ aus dem Mund seines Anwalts, des Stasispitzels Wolfgang Schnur, immer wieder anhören. Seinen Zustand beschreibt Rochau so: „Ich hatte zwar meine Kirche verloren, nicht aber meinen Glauben.“

Dass der Fall Rochau „für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche keine Bedeutung“ habe, sagte damals der Magdeburger Bischof Werner Krusche. Ein Irrtum. Wer wissen will, wie schlüssig SED und Kirche in Teilen ineinandergriffen, wird in Rochaus Buch bestürzend fündig.

Im Westen, in Darmstadt, schlug sich Rochau durch, holte Frau, Sohn und 37 Familienmitglieder nach, darunter den inzwischen vom SED-Glauben abgefallen Vater. Kaum wurde die Mauer geöffnet, ließ Lothar Rochau Frau und Sohn im Westen allein, um zurück nach Halle zu ziehen. Ein Einsatz, der die Kleinfamilie sprengte. Von 1990 bis zu seiner Pensionierung 2017 - die er nicht akzeptieren wollte - war Lothar Rochau als Leiter des Jugendamtes Halle tätig. „Ich muss zugeben: Es war nicht mein Traumjob.“ Aber sein ureigenes Thema.

„Dichtes“ Leben, das ist eine Formel, die Rochau gebraucht. Dicht ist etwas, wenn viel geschieht, wenn die Kontakte eng, das Tempo hoch ist. Davon erzählt dieses Buch, das von den Armee-Jahren bis zum Jahr 1989 seine starken Passagen hat. Was danach geschah, ist mehr protokollarisch erfasst und im Blick auf die hallesche Politik wenig ergiebig. Rochaus Nähe etwa zu Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) ist unerwähnt.

Laufen, immer laufen

Hingegen die Jahre in Halle-Neustadt, die Haft-Monate, dieJahre danach: Das ist eine zeitgeschichtlich genaue und erhellende Lektüre, die viele Details bietet. Auch solche, an denen die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands zu arbeiten hat. Mit einem Bußwort wurde 2017 um Vergebung bei jenen gebeten, die in der DDR von der Kirche nicht hinreichend unterstützt worden waren. Für finanzielle Entschädigungen wurden jetzt 500.000 Euro bewilligt, die in Raten bis 15.000 Euro verteilt werden sollen.

In der Vorbemerkung zum Buch schreibt die Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit Neumann-Becker, über die DDR-Jahre: „Der Jugenddiakon Lothar Rochau macht für viele den Unterschied.“ Das galt auch für den Staat. Der Diakon war für die SED der Ernstfall eines Oppositionellen. Einer, der „offen“ auf „ihre“ Jugend zugriff.

Den Unterschied machte auch das: Hier kam ein Gegenspieler einmal weder aus den Kreisen der SED-Nomenklatura noch aus denen der SED-Dissidenz. Und auch nicht aus den stützenden, schützenden Strukturen der Kirche. Statt dessen: ein Arbeiter aus Thüringen! Der nahm seinen Weg aus eigenem Entschluss, zögernd erst, dann immer schneller. Bis er schließlich zu laufen begann. Heute zwischen mindestens 50 und 70 Kilometer pro Woche. (mz)

Lothar Rochau mit Ines und Peter Godazgar: Marathon mit Mauern. Mein deutsch-deutsches Leben. Mitteldeutscher Verlag, mit Abb., 280 S., 18 Euro