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DDR-CDU DDR-CDU: «Im Fall meiner Person lächerlich»

04.11.2011, 17:39

Halle (Saale)/MZ. - Ein halbes Jahrhundert war Gerald Götting als einer der Chefs der DDR-CDU ganz oben im Arbeiter- und Bauernstaat. Nach dem Mauerfall aber verschwand der gebürtige Hallenser aus der Öffentlichkeit. Jetzt hat Götting seine Lebensaufzeichnungen an das hallesche Stadtarchiv übergeben und Steffen Könau einige Fragen beantwortet.

Inwieweit haben Sie sich während Ihrer Schulzeit als Christ und Nichtmitglied bei der HJ ausgegrenzt gefühlt? Gab es dadurch Nachteile?

Götting: Die Atmosphäre bei uns zu Hause war konservativ und total "Anti-Hitler". So war es mir durchaus angenehm, von den Veranstaltungen des Jungvolks und der HJ verschont zu bleiben. Dafür musste ich den nationalpolitischen Unterricht absitzen. Die Lehrer dort waren scharfe Nazis, bisweilen schikanös. Der Lehrkörper der Latina war aber vor allem humanistisch gesinnt. Ich war gut in Leichtathletik und galt wegen meiner literarischen Versuche ein bisschen als Sonderling. Spitzname: Geraldo Geraldinowitsch. Politische Ausgrenzung durch Kameraden erfuhren erst die, die sich nicht freiwillig zum Militär meldeten.

Halle in jener Zeit - wie war die Atmosphäre damals? War die Stadt eher rot, eher braun?

Wir wohnten vor den Toren der Stadt, in Nietleben, ein Arbeiterdorf. Dort waren die Kämpfe zwischen den Roten, den Sozialdemokraten und den Nazis aus nächster Nähe zu betrachten. Unvergessen ist mir, als ich auf dem Marktplatz in Halle die schreienden Massen Eislebener Minenarbeiter von Glaucha heraufziehen sah. "Arbeit und Brot" skandierten sie. "Oh, das sind die Kommunisten, bloß schnell fort von hier", sagte meine Mutter angstvoll. Mein Vater sah mit Sorge die Unfähigkeit der Parteien, das Elend abzuwenden. Die Machtergreifung Hitlers galt in unserer Familie als Katastrophe.

Ihr Großvater, der Heimatforscher Schultze-Gallera, war ein traditioneller Konservativer?

Götting: Der Großvater war ein wütender Gegner Hitlers. Im Dorf hieß Siegmar Baron von Schultze-Gallera nur "der Baron", man achtete ihn als Heimatforscher, aber als "verarmter Adeliger" war er politisch ohne Relevanz.

Sie waren der Auffassung, dass ein Höherer etwas Großes aus Ihnen machen wollte. War das nur kindliche Träumerei?

Götting: Nach dem Tod meines Vaters fühlte sich mein Großvater quasi als "Erziehungsverpflichteter". Wir lebten ja im selben Haus. Er hatte Großes mit mir vor. Die Schilderungen der Großtaten hugenottischer, baltischer und anderer adeliger Vorfahren hörte ich aus seinem Munde nicht ohne Bewunderung. Ihm zuliebe paukte ich Latein und Griechisch, was nicht ohne Ohrfeigen abging. Er hoffte, dass ich Professor werden und seine Heimatforschungen fortsetzen würde.

Ihr Marsch zurück aus dem Krieg, die trickreiche Vermeidung der Gefangenschaft - war das nur Glück oder ein Zeichen dafür, dass Sie Ihr Schicksal selbst meistern wollten?

Götting: Der Krieg hat mich aus der behüteten Enge Nietlebens herausgeführt. Der Krieg ist ein grausamer Lehrmeister. Wenn man darin nicht umkommt, hat man vor allem Glück. Er bringt einen in Kontakt zu Menschen, denen man sonst nie begegnet wäre. In Not und Gefahr gewinnt man große Achtung vor dem Mit-Menschen. So wurde ich vom Pennäler zum Mann mit der Entschlossenheit, mein Schicksal zu meistern.

Welche Ziele verbanden sich für Sie damals mit dem Eintritt in die CDU?

Götting: Mir gefiel am meisten der Wille zur Zusammenarbeit allerParteien beim Aufbau eines neuen, demokratischen Deutschlands. Aufgrund meiner familiären Traditionen kam nur die CDU infrage. Hierzu kam die Kriegserfahrung: Dies musste der letzte Krieg gewesen sein! Systeme, die zu Kriegen geführt hatten, mussten verändert werden. Das war mein Motiv.

Kontakte zu den sowjetischen "Aufsehern" waren lästig oder hilfreich?

Götting: Zuerst hatten ja die Amerikaner Halle eingenommen. Dann aber fiel Sachsen-Anhalt an die "Bolschewisten". Ein Wort, mit dem sich Schrecken verband. Aber die Sowjetunion war die Siegermacht, die jetzt alles entschied. An den Vorstandssitzungen der CDU nahm stets der Vertreter der Militäradministration teil, ein Leutnant Sawischew. In der Begegnung mit ihm änderte sich für mich das Schreckensbild vom Bolschewisten. Er war ein Sieger, aber er war auch ein einfacher russischer Mensch mit dieser besonderen Mentalität, die uns immer etwas fremd und schwer verständlich sein wird. Bei gebildeten Russen konnte man eine Höflichkeit und ein Feingefühl finden, die damals in Deutschland schon selten geworden waren. Weder ich noch die CDU erhielten Ratschläge von ihm, aber sein Veto war unumstößlich. Als er starb, habe ich auf Wunsch seiner Frau am Sarg Abschiedsworte gesprochen.

Später hat Sie die SED jahrelang verdächtigt, gegen die führende Rolle der Partei zu arbeiten. Hat Ihnen die enge Verbindung zu den Sowjets in dieser Situation geholfen?

Götting: Die CDU hatte die führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse anerkannt. Der Argwohn der SED entsprang hauptsächlich der Sorge, die Partei könne trotz ihrer Abhängigkeit zu beliebt, zu stark werden, zumal die namensgleiche Partei in der Bundesrepublik führend war.

Welcher Art waren Ihre Verbindungen überhaupt? Basierten sie auf Freundschaft zu Einzelnen oder gab es ein verabredetes Verhältnis?

Götting: Es waren immer persönliche Kontakte zu Einzelnen, auch private Besuche mit Familie. Diese Kontakte konnten gerade deshalb so locker und freundlich sein, weil die CDU keinerlei Machtbefugnisse hatte. Offiziell gab es die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Die Besiegten sollten die Sieger als Befreier anerkennen. Innerhalb dieser Gesellschaft, entstanden tatsächlich viele freundschaftliche Kontakte: Brieffreundschaften, Jugendaustausch, Künstlerreisen und vieles mehr. Aber es konnte ja auch niemandem verborgen bleiben, dass die Befreier Besatzer blieben und sich mit ihrer Kriegsbeute für eigene erlittene schwere Verluste entschädigten.

Welche Sicht auf die DDR hatten Sie vor dem Mauerbau?

Götting: Nach dem Kriegsende bestand eine gewisse Zeit die Chance auf die Bewahrung der deutschen Einheit. Diese Hoffnung zerschlug sich durch die Einführung der D-Mark in den West-Zonen. Ich sah die DDR als den alternativen deutschen Friedensstaat, der das Experiment einer neuen Gesellschaftsordnung wagte und dabei allein die Reparationen für die Sowjetunion aufbringen musste.

Veränderte sich dieser Blick nach dem Mauerbau?

Götting: Der Bau der Mauer verhinderte eine militärische Auseinandersetzung der beiden Blöcke. Trotzdem empfand ich den Mauerbau nicht als Ruhmesblatt für den Sozialismus.

Sie haben die Rentnerreisen und die Bausoldaten-Regelung gegen den anfänglichen Widerstand der SED durchgesetzt. Wie akzeptiert man, dass man die Lorbeeren dafür nicht öffentlich ernten darf?

Götting: Es ging mir um die Sache, um einen menschlicheren Sozialismus in unserem Land. Auf persönliche Lorbeeren konnte ich gern verzichten.

Wann wurde Ihnen klar, dass die Stasi Sie belauscht? Wurde Ihnen das überhaupt klar? Wie verändert man sich in einer solchen Situation?

Götting: Alle Staaten unterhalten Sicherheitsdienste. Ich fand es normal. Das Ausmaß des Apparates zur Bespitzelung begriff ich erst nach und nach und fand es in meinem Fall eher lächerlich, weil ich den Staat keinesfalls gefährdete. Selbst im Wissen um die Bespitzelung musste ich mein Verhalten nicht ändern. Menschliche Enttäuschung durch vermeintliche Freunde blieb freilich nicht aus.

Was unterschied sich in Ihrem Verhältnis zu Ulbricht von dem zu Honecker? Was hielten Sie von dem einen, was von dem anderen?

Götting: Ulbricht wie Honecker waren höchste Instanzen, freilich mit einem Generationsunterschied und einer unterschiedlichen Vita. Ulbricht kannte noch das Kaiserreich, Deutschland in seiner Größe und Macht vor dem 1. Weltkrieg. Von daher bezog er Maßstäbe auch in Bezug auf Andersdenkende. Er hatte Format. Mit ihm gab es nur einen sehr korrekten Umgang. Wir waren stets per "Sie". Honecker gehörte zur FDJ-Generation. Er kannte nicht die Emigration. Er verbrachte zehn seiner besten Jahre im Zuchthaus der Nazis. Der "gute saarländische Bub" hätte die DDR gern bunter gemacht, wenn er denn gekonnt hätte. Er war ein guter Kumpel, wo er nicht den Machtmenschen spielen musste. Und er verschätzte sich in der Freundschaft der Sowjetunion. Man ließ ihn fallen, selbst seine eigenen Genossen.

Wann wurde Ihnen klar, dass die DDR in immer schwereres Fahrwasser gerät? Wann erkannten Sie, dass es zu Ende geht?

Götting: Als der Zerfall der Sowjetunion immer erkennbarer wurde und sich zeigte, dass Gorbatschow seine Kriegsbeute nicht mehr verteidigen würde, sondern bereit war, sie zu verkaufen - da war der Untergang der DDR besiegelt. Das war spätestens im Herbst 1989.

Welche Fehler und Versäumnisse werfen Sie sich heute selbst vor?

Götting: Ich muss mir sicher vorwerfen, die Diskrepanz zwischen Idealismus und Wirklichkeit zu spät erkannt zu haben. In den Medien erfahre ich heute allerdings vieles über die DDR, was ich gar nicht gewusst habe. So erweitert sich mein Bild von diesem Land bis heute ständig.