Paralympics-Starter aus Halle Das zweite Leben des Anas Al Khalifas
Der syrische Geflüchtete Anas Al Khalifa musste Schicksalsschläge verkraften. Nach einem Arbeitsunfall gab der Sport ihm neuen Mut. Nun startet er bei den Spielen der Behinderten in Tokio.

Halle (Saale)/MZ - Die burschikose Aufforderung der Trainerin holt Anas Al Khalifa aus seiner Verlegenheit. „Komm Anas, mach uns den Usain Bolt“, ruft Ognyana Dusheva dem Mann im Rollstuhl zu, dem angesichts der medialen Aufmerksamkeit die Anspannung ins Gesicht geschrieben steht. Tatsächlich weicht diese nun einem schüchternen Lächeln. Und auch wenn er sich an die berühmte Blitz-Geste des Sprintstars mit den Armen dann doch nicht heranwagt, so posiert der Para-Kanute nun für den Fotografen, lässt auf dem Bootssteg am Saaleufer in Halle seine Muskeln spielen.
Seine Oberarme sind wirklich beeindruckend kräftig. Gestählt durch hartes Training. Allerdings sind sie auch im Alltag mehr gefordert als bei den meisten anderen. Vor ein paar Monaten war das noch anders: „Am Anfang“, sagt Anas Al Khalifa und zeigt nun wieder mit ernster Miene auf die kleine Erhebung, „bin ich nicht mal diese Rampe hier hochgekommen.“
Dann erzählt der Querschnittsgelähmte am letzten Tag vor seiner Abreise ins Tokio-Vorbereitungscamp nach Kienbaum von den schweren Zeiten. Und was ihm geholfen hat, diese nicht als Ende wahrzunehmen, sondern für einen Neuanfang zu nutzen. „Ganz ehrlich“, sagt er, „ich wollte sterben“. Der Sport hat ihm neuen Lebensmut gegeben. Seine Sportfreunde sind zur Ersatzfamilie geworden. Bei den Paralympics ab 24. August hat der Wahlhallenser die Chance, der Welt zu zeigen, was er gelernt hat und worin er nun seine Erfüllung sieht.
Jahrelange Flucht
Dass das Wasser sein Element sein würde, das gibt der heute 28-Jährige zu, habe er früher nicht mal erahnt. Als der Syrer noch bei seiner Familie in Hama lebte, da spielte der Sport in seinem Leben keine Rolle. Der Krieg und all sein Leid, das mit den Bomben kam, hatten seine Kindheit jäh beendet. Nach der neunten Klasse war es mit der Schule vorbei, eine Ausbildung zum Automechaniker nicht mehr möglich. Während sein großer Bruder bei den Eltern blieb, wurde der Teenager 2011 von der Familie in die Fremde geschickt, um sich ein besseres Leben aufzubauen und mit dem Geld, was er erarbeitet, die Zurückgebliebenen zu unterstützen. So war der Plan.

Die Realität sah anders aus. Die Flucht führte Anas Al Khalifa über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Bulgarien und Österreich schließlich nach Deutschland. Über ein Flüchtlingsheim in Hamburg ging es weiter in ein Dorf irgendwo bei Neubrandenburg. Den Ortsnamen hat er vergessen. Die Odyssee dauerte bis 2015. Und danach? „War’s auch noch sehr schwer“, sagt der junge Mann, so ganz ohne Familie und ohne die Sprache zu können.
Sturz vom Dach bei Montage
Doch die wollte er lernen. Und Geld verdienen wollte er auch. Bei einer Solarbau-Firma aus Aschersleben war das schließlich möglich. Er half bei der Montage hoch oben auf den Dächern. Die Baustellen wechselten und führten ihn durch ganz Sachsen-Anhalt. In Magdeburg dann nahm das Leben des Flüchtlings erneut eine dramatische Wende. Bei einem Sturz vom Dach verletzte er sich am der Wirbelsäule.
In einem Krankenhaus in Magdeburg kam er Tage nach dem folgenschweren Arbeitsunfall wieder zu sich, spürte nur noch ganz wenig in seinen Beinen. Aber auch dieses hoffnungsvolle Gefühl ging bei den darauffolgenden Operationen verloren. Und damit sein gesamter Lebensmut. Wie sollte er sein Schicksal allein meistern? Wie die Erwartungen erfüllen und seiner Familie zu Hause helfen? Von der kleinen Rente, die dem Verunglückten zusteht, bleibt nichts übrig. „Meinen Eltern“, berichtet er, „habe ich nicht gesagt, wie schwer ich verletzt bin, um sie nicht zu beunruhigen“. Die Mutter hätte die Wahrheit nicht verkraftet.
Hilfe aus der Ferne
Nur sein Bruder wusste Bescheid. „Er hat mir immer wieder Mut zugesprochen und gesagt, du musst stark sein.“ Lange haben beide miteinander telefoniert, immer wenn es das schwache Internet in Syrien zuließ. Ja, der Bruder hatte ihm damals wieder aufrichten können. Und Ognyana Dusheva.
Die Trainerin, die 1988 für Bulgarien Olympiabronze im Kajak erkämpft hatte und aktuell Halles querschnittsgelähmte Kanutin Anja Adler auf die Paralympics vorbereitet, lernte Anas Al Khalifa vor gut anderthalb Jahren kennen. Der war mittlerweile ins hallesche Bergmannstrost verlegt worden. Der Freund seiner Physiotherapeutin dort ist selbst Parakanute. Und hatte den seelisch schwer Angeschlagenen einfach mal mitgenommen zum Training in den Kraftraum. „Ich hatte zuerst in seinen Augen nur Traurigkeit gesehen“, erinnert sich die Bulgarin. Doch die Expertin hat auch registriert, dass Anas’ Schultern breit sind und der Körper wie gemacht ist für den Sport. „Willst du Kanu fahren, habe ich deshalb gefragt.“ Anas Al Khalifa wusste zu dem Zeitpunkt nicht einmal, was das ist, das Kanufahren. Und doch hat er ja gesagt. Sich bei einem ersten Training im März in der Schwimmhalle ins Kajak gesetzt, während die Tochter von Ognyana Dusheva ins Wasser gesprungen war und von dort half.
Anas Al Khalifa weiß gar nicht, wie oft er gekentert ist, auch später noch auf der Saale. Dort ist die Trainerin anfangs noch mit dem Motorboot hinterhergefahren, um dem Sportler, der seine Beine nicht nutzen kann, im Notfall beizustehen. „Ogi“, wie der Kanute seine Trainerin nennt, hat zu ihm gesagt: „Du schaffst das. Du schaffst alles, wenn du es nur willst.“
Als sie dann das erste Mal von Tokio sprach, da wollte der Sportler es nicht so recht glauben. Doch er wurde besser. Auch als wegen Corona zwischenzeitlich nicht trainiert werden durfte, verfiel er nicht wieder in die alte Lethargie. Anas Al Khalifa hat die Herausforderung angenommen.
Bruder wurde erschossen
Bis ihn seine schreckliche Vergangenheit wieder eingeholt hatte. Im Dezember wurde sein Bruder erschossen, als er in der entmilitarisierten Zone einen Streit schlichten wollte. „Ogi, ich kann nicht mehr, ich will nach Hause“, hatte Anas Al Khalifa am Boden zerstört gesagt. „Da war sie wieder, die Traurigkeit in seinen Augen“, sagt die Trainerin. Doch sie hat ihm überzeugt, weiterzumachen. Nicht nur für sich. Auch für die Familie zu Hause, die stolz sein soll auf ihn, so wie es auch sein Bruder gewollt hatte.
Beim Weltcup in diesem Sommer Szeged und der Europameisterschaft in Poznan gab Anas Al Khalifa seinen internationalen Einstand, kam ins A-Finale. Und dann folgte sie tatsächlich, die Berufung in das Flüchtlingsteam, durch das Internationale Paralympische Komitee. Anas Al Khalifa wird zum Botschafter. „Jetzt weiß ich, dass mein Bruder Recht hatte und Ogi auch“, sagt der Sportler und sein Gesicht strahlt nun Selbstbewusstsein aus. Er kann Freude am Leben empfinden, etwas erreichen, selbst wenn er seine Beine nicht bewegen kann. „Das will ich all denen zeigen, die mein Schicksal teilen.“ Und die Familie in Syrien wird zusehen bei den Tokio-Wettbewerben. Voller Stolz. Der Sohn trägt trotz aller Schicksalsschläge eine Botschaft in die Welt: Aufgeben ist keine Option.