Zeitgeschichte Zeitgeschichte: Der Schreck in Westdeutschland

helbra/MZ - „Polizeiterror gegen Helbraer Kinder“ lautete die Schlagzeile eines Flugblattes im November 1954 in Aachen. Eine Schlagzeile, auf die das geschichtsinteressierte Mitglied im Helbraer Heimatverein, Günther Tröge aus Benndorf, beim Durchstöbern der Chronik von Helbra zufällig aufmerksam wurde.
Eine Schlagzeile, die auch noch nach fast 60 Jahren die Betroffenen berührt. Deshalb trafen sich jetzt die Kinder von einst in Helbra im Sportlerheim. Aber was geschah eigentlich im Herbst 1954?
Das Volkskunstensemble der Zentral- und Oberschule Helbra hatte eine Tournee durch Westdeutschland geplant. Als Zeichen für die Friedensbewegung organisierte das Bundesland Nordrhein-Westfalen mit ostdeutschen Schülern eine Kulturbegegnung und das Schülerensemble aus Helbra wurde dazu auserwählt und nach Aachen eingeladen. Neben Aachen standen auch Bonn, Essen und eine kleine Stadt im Teutoburger Wald auf dem Tourneeplan.
Dabei reichte das Kulturprogramm vom rheinischen Klapptanz bis zum amerikanischen Volkslied und hatte keinerlei politischen Hintergrund. „Wir haben in den Wochen davor viel geprobt und das Programm als Generalprobe vor Eltern und Gästen vorgeführt“, erinnerte sich Winfried Dach, der damals Lehrer an der Schule war. Der Benndorfer war damals einer der Begleitpersonen für die 98 mitreisenden Chor- und Orchester-Mitglieder sowie die Solisten im Alter von zehn bis 18 Jahren.
Aufgeregt und voll Vorfreude ging es in drei modernen Bussen fröhlich auf Reise. Die Grenzen auf westdeutscher Seite wurden problemlos passiert, denn die ganzen Prozeduren von Genehmigungen des Auswärtigen Amtes, der Genehmigung des Programms als auch Visa waren im Vorfeld erledigt und füllten dicke Hefter, wie sich der einzige erwachsene Zeitzeuge, Winfried Dach, noch genau erinnerte. Köln war bereits erreicht, als plötzlich ein Bus mit Motorschaden liegen blieb. Alle Bemühungen, den Bus trotz Westgelds reparieren zu lassen, scheiterten. „Wir wurden eindeutig boykottiert“, so die Meinung von Dach aus heutiger Sicht.
Aber das Ensemble aus Helbra ließ sich nicht entmutigen und die knapp hundert Jungen und Mädchen der Oberschule rückten einfach zusammen und teilten sich auf die restlich verbliebenen zwei Busse auf, denn in Aachen warteten bereits die Gasteltern auf die Kinder des „ostdeutschen Dorfes“. „Ich wohnte bei einer Friseurfamilie, bekam kleinere Geschenke, wurde sehr nett empfangen und alles schien vollkommen normal zu sein“, erinnerte sich die 74- jährige Jutta Scharf aus Klostermansfeld, die zum damaligen Zeitpunkt 14 Jahre alt war.
Es schien aber alles nur normal. Als die Premiere in Aachen anstand und alle gemeinsam zum dortigen „Jakobshof“ anreisten, war das gesamte Areal weiträumig durch die Polizei abgesperrt und die alle Mitglieder des Kunstensembles wurden festgenommen.
Was nach der Festnahme und der Isolierung der ostdeutschen Jungen und Mädchen sowie deren Betreuer folgte, waren dann stundenlange Verhöre.
Über Befragungen nach der Zugehörigkeit zur FDJ, die in der damaligen BRD verboten war, genau wie ihre Unterorganisation die „Jungen Pioniere“, wunderten sich alle Mitglieder des Ensembles.
„Wir verstanden die Welt nicht mehr. Wir wollten doch nur singen“, meinte Robert Bischoff aus Helbra sechzig Jahre später. Ohne nur einen Ton gesungen zu haben, wurde das Helbraer Ensemble mit großem Polizeiaufgebot zurück an die innerdeutsche Grenze transportiert, wo die Busse beschlagnahmt wurden und alle zu Fuß durch das „Niemandsland“ bis zum Erreichen der DDR-Grenze marschieren mussten. Dort wurden sie von den Grenzsoldaten bereits erwartet und trotz Strapazen und Müdigkeit packten die Musiker ihre Instrumente aus, der Jugendchor ölte seine Stimmen und als Dankeschön wieder in der Heimat zu sein, holte das Jugendensemble so seinen Auftritt nach und sorgte 1954 für Schlagzeilen nicht nur in der Tageszeitung „Freiheit“ von Halle, sondern auch in den „Aachener Nachrichten“.