Sigmar Gabriel zu Besuch in Eisleben Sigmar Gabriel zu Besuch in Eisleben: "Die Menschen fühlen sich vergessen"

Sangerhausen/Eisleben - Sigmar Gabriel ist spät dran. Er kommt von zu Hause und stand im Stau. Auch ein ehemaliger Außenminister und SPD-Parteichef kann eben nichts machen, wenn ein brennender Lkw auf der Strecke Goslar - Eisleben die Straße versperrt. Später dann, kurz vor der Podiumsdiskussion am Samstagabend im Eisleber Bahnhof zusammen mit der Bundestagsabgeordneten Katrin Budde und Eislebens Bürgermeisterin Jutta Fischer (beide SPD), spricht er über die Einheit des Landes, Bildung und seine Familie. Das Gespräch führte Joel Stubert.
Seit 28 Jahren gibt es ein wiedervereinigtes Deutschland. Denken Sie noch in Ost/West?
Sigmar Gabriel (59): Na ja gut, bei uns zu Hause ist ja jeden Tag Wiedervereinigung, da ich mit einer Frau aus Sandersleben verheiratet bin. Aber ernsthaft gesprochen ist es so, dass ich schon das Gefühl habe, dass sich die Deutschen in Ost und West in den letzten Jahren eher wieder ein bisschen auseinandergelebt haben und sich wieder lieber um sich selbst kümmern. Das ist nicht erst seit kurzem so.
Haben Sie ein Beispiel?
Gabriel: Wenn wir im Sommer auf Usedom sind, zeigen die Auto-Kennzeichen, dass hier offenbar vor allem die Ostdeutschen in ihre alten Feriengebiete zurück kehren und die Westdeutschen vermutlich wieder nach Sylt oder Travemünde. Aber es gibt auch bessere Entwicklungen vor allem unter jungen Menschen. Wenn Sie in die Universitäten schauen, dann studieren hier jungen Leute quer durch die Republik, völlig egal, woher sie kommen. Das ist eine tolle Entwicklung.
Ihre Frau stammt aus Sandersleben, sie sind häufiger im Landkreis - welchen Eindruck haben Sie von Mansfeld-Südharz?
Gabriel: Er ist fast schon typisch für die ländlichen Regionen Ostdeutschlands. Der Bevölkerungsrückgang ist dramatisch und noch nicht zu Ende. In die Städte kommen die Leute zurück, in den ländlichen Regionen ist das anders. Diese Entwicklung in Ostdeutschland hat allerdings längst auch im Westen begonnen.
Mehr als zwanzig Prozent der deutschen Gemeinden haben keine Schule, keinen Laden, Arzt, Apotheker und nicht einmal mehr eine Bushaltestelle. Die Menschen fühlen sich vergessen und das muss einem Sorgen machen. Denn Menschen, die auf dem Land leben, haben das gleiche Recht und einen Anspruch auf ein vernünftiges Leben und eine Daseinsvorsorge, wie das die Bürger in Städten haben. Die Verfassung sagt uns, wir sollen dafür sorgen, dass annähernd gleiche Lebensbedingungen herrschen, das kann man momentan nicht sagen.
Deutschland spaltet sich nicht nur in Arm und Reich, sondern auch in Stadt und Land und leider auch wieder stärker in Ost und West. Es gibt auch noch Dinge, die in Ostdeutschland besser sind, zum Beispiel die Versorgung mit Krippen. Die Löhne von Männern und Frauen sind angeglichener als im Westen und wenn Sie sich meine Region anschauen, den Harz, dann ist es fantastisch, was da im Ostharz an touristischen Attraktionen entstanden ist.
Was können denn Westdeutsche von Ostdeutschen lernen?
Gabriel: Geduld.
Woran machen Sie das fest?
Gabriel: Das ist nur mein Eindruck und ich weiß nicht, ob man den verallgemeinern kann. Aber was ich an meiner ostdeutschen Familie am meisten bewundere ist die Gelassenheit, mit der sie leben. Immer nach dem Motto: Man muss das Leben nehmen, wie es ist, aber man darf es auch nicht so lassen. Die wissen auch, dass vieles besser werden müsste, aber sie sind nicht halb so aufgeregt wie viele, die ich aus dem Westen kenne.
Der Lehrermangel im Landkreis ist groß, in Roßla beispielsweise fehlen ganze Schulklassen an Tagen, weil zu wenig Lehrer da sind. Wie kann das verbessert werden?
Gabriel: Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da gab es zu viele Lehrer. Wir haben alle miteinander gesagt: Der Staat muss sparen. Ich habe mich über diese lauten Rufe nach „Sparen, Sparen, Sparen“ immer etwas gewundert, denn Bundesländer können immer nur an einer Stelle richtig sparen: bei Personal, denn ihre Haushalte sind Personalhaushalte. Und Personal, das sind in den Ländern vor allem Lehrer und Polizei. Aber gegen diesen Sparkurs zu sein, war jahrzehntelang sehr unpopulär. Und seit 20, 30 Jahren sparen wir bei den Personalkosten und jetzt merken wir das.
Wie kann man gegensteuern?
Gabriel: Wir haben seit einigen Jahren einen ungeheuren Wirtschaftsaufschwung, der leider nicht bei allen gerecht ankommt. Aber dem Bundeshaushalt quillt das Geld nur so aus den Ohren. Warum hören wir mit dem Unsinn nicht endlich auf, dass der Bund den Ländern nicht bei der Bildung helfen darf? Diesen Bildungsförderalismus verstehen inzwischen weder Eltern, Schüler noch Lehrer. Wenn Bildung das Wichtigste ist, wie jeder Politiker in jeder Rede mindestens dreimal betont, dann stellt sich doch die Frage, warum der Bund für das Wichtigste nicht zuständig ist?
Aber dafür muss der Bund die Verfassung ändern, da der Bund nur Geld für Investitionen geben darf, nicht aber für Lehrer. Wir müssen dringend den Föderalismus in den Bildungsstrukturen aufgeben. Die Eltern können doch die Ausreden nicht mehr hören, dass die eine staatliche Ebene die Verantwortung immer auf die andere schiebt. Eltern und Lehrer wollen nicht über Zuständigkeiten reden, sondern dass die Zustände sich ändern.
Wie kann man denn Lehrer in ländliche Gebiete locken?
Gabriel: Erstmal müssen genügend ausgebildet werden. Es ist durchaus noch so, dass der Beamtenstatus für viele interessant ist. Und das zweite, was diskutiert wird - wie auch bei Ärzten - ist, dass man Zuschläge geben könnte für Leute, die in ländliche Regionen gehen.
Aber da muss man aufpassen, denn die Lebenshaltungskosten in der Großstadt sind wiederum viel höher. Man muss ausbilden und die Länder brauchen unbedingt die Unterstützung des Bundes. Warum ist Deutschland nicht in der Lage, in den nächsten zehn Jahren die Zahl der Lehrer zu verdoppeln? Wir reden da über vielleicht 20 bis 30 Milliarden Euro, und wenn ich mir vorstelle für was wir sonst Geld rausblasen, muss ich sagen: Vor der Zahl hätte ich keine Angst. Die Zukunft Deutschlands hängt davon ab, dass unsere Kinder exzellent ausgebildet werden. Da darf uns nichts zu teuer sein.
Die Kommunen im Landkreis leiden unter Finanznot. Wie kann denen geholfen werden?
Gabriel: Generell geht es den Kommunen besser in den letzten Jahren. Sie haben allerdings dort Schwierigkeiten, wo die Gewerbesteuereinnahmen fehlen. Die Ausstattung der Kommunen hängt entscheidend vom kommunalen Finanzausgleich in einem Bundesland ab.
Da hat der Bund nichts zu melden. Aber wir müssen auch Heimat schaffen und da müssen wir als Bund für die Daseinsvorsorge auf dem Land mehr tun. Es kann doch nicht sein, dass Leute gewissermaßen dafür bestraft werden, weil sie sich für ein Leben auf dem Land entschieden haben. (mz)