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«Mit allen Schikanen ausgestattet»

Von BURKHARD ZEMLIN 05.08.2009, 16:53

HETTSTEDT/MZ. - Bleicher, der 1907 den Auftrag zum Bau des Breiten Umkehr-Walzwerkes erhalten hatte, fieberte vielmehr der Fertigstellung von Europas größter Kupferwalzstraße entgegen, die einige Wochen später endlich ihren Probelauf bestand.

Bleicher wusste, dass er mit dem Projekt Neuland betrat. Zu dieser Zeit gab es ja noch keinerlei Erfahrungen mit der Konstruktion großer Walzwerke. Alle bislang gebauten Anlagen dieser Art wurden mit Dampfmaschinen angetrieben. Bleicher hingegen setzte auf die Elektrotechnik, deren industrielle Nutzung sich noch in den Kinderschuhen befand. Erst wenige Jahre zuvor hatten die Siemens Schuckert Werke in Berlin die Entwicklung riesiger elektrischer Antriebe für Walzwerke und Schachtförderanlagen begonnen. 1907 lieferte Siemens Schuckert bereits den elektrischen Antrieb für ein Umkehrwalzwerk in der Nähe von Osnabrück.

Doch die Hettstedter stellten noch ganz andere Anforderungen. Für sie musste ein spezieller Gleichstrommotor als Walzenantrieb konstruiert werden mit der gigantischen Leistung von 3900 PS, was 3200 kW entspricht. Im Mai 1908 begann der Bau der Antriebsanlage, ein knappes Jahr später wurde bereits mit dem Aufbau in Hettstedt begonnen, wobei heute keiner mehr zu sagen vermag, wie es gelang, die tonnenschweren Bauteile vom Bahnhof Hettstedt mit Pferdewagen bis nach Großörner zu schaffen.

Im Jahr 1934 blickte Ferdinand Bleicher zurück: "Das Walzwerk, mit allen Schikanen ausgestattet, ein Meisterwerk der Lieferfirma, konnte mit ungeschulten Arbeitern bereits nach einigen Wochen 28 mal in der Minute von null auf 40 Umdrehungen von rechts nach links oder umgekehrt gesteuert werden, gleichviel, ob der zu verarbeitende Kupfer- oder Messingblock ein Gewicht von zwei oder 5000 Kilogramm hatte." Kurzum: In Hettstedt war eine Anlage aufgebaut worden, die in der Welt ihresgleichen suchte. "Das Walzwerk war immer auf dem modernsten Stand der Technik", versichert Wolfgang Lomme, der 42 Jahre im Betrieb tätig war. Der gelernte Walzer, der Meisterschule und Fernstudium absolvierte, war bis 1991 Betriebsleiter im Blech- und Bandwalzwerk. Er fasst die Betriebsgeschichte so zusammen: "Das waren 100 Jahre Innovation."

Dabei stand der Bau des Werkes in Nachbarschaft der Gottesbelohnungshütte Großörner zunächst unter keinem guten Stern. Bei den Erdarbeiten auf dem Gelände des Gutes Großörner , das sich im Besitz der Mansfeldischen Kupferschiefer bauenden Gewerkschaft befand, stießen die Bauleute in sechs Meter Tiefe auf vorgeschichtliche Hockergräber und Urnen, was nicht unbedingt als gutes Omen gesehen wurde. Am 9. Dezember 1908 war gar ein Todesopfer zu beklagen. Beim Bau eines Schornsteins brach einem Maurer das Steigeisen, der Mann stürzte 28 Meter in die Tiefe.

Acht Monate später war Betriebseröffnung - mit zunächst 82 Mitarbeitern. Sie standen am Anfang einer Entwicklung, die das Geschehen um Hettstedt ein Jahrhundert maßgeblich mit geprägt hat.