Wunsch eines unheilbar Kranken Wunsch eines unheilbar Kranken: Adrian darf ein letztes Mal ans Meer

Dessau - Adrian ist umgeben von Kissen, die seine Brust, Beine, Arme und seinen Kopf abstützen. Er liegt auf der dunkelblau gepolsterten Liege im Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) Sachsen-Anhalt. Zwischen seinen Beinen steht ein hellblauer Kasten, es ist das Beatmungsgerät, das ihn am Leben hält. Adrian hat es auf den Namen Natascha getauft: „Mir hat der Name einfach gefallen.“
Seine Mutter Jacqueline und seine Pfleger Tino und Nadine wirbeln um das Fahrzeug herum, laden medizinische Geräte und Koffer ein. „Wir dürfen nichts vergessen“, sagt Jacqueline etwas angespannt. Vom Anhalt-Hospiz in Dessau soll die Fahrt mit dem ASB-Wünschewagen an die Ostsee rund vier Stunden dauern.
Es ist Adrians großer Wunsch, noch einmal das Salzwasser des Meeres auf seiner Haut zu spüren und Fische zu sehen. Doch so viele Stunden ist Adrian seit dem Ausbruch seiner schweren Erkrankung nicht mehr in einem Auto unterwegs gewesen. Ganz unbesorgt ist seine Mutter deswegen nicht. Sie befürchtet, dass sich sein Zustand durch die Fahrt verschlechtern könnte.
Adrian leidet an einem aggressiven Muskelschwund
Der 18-jährige Dessauer ist unheilbar krank. Er leidet an einem aggressiven Muskelschwund. Von Jahr zu Jahr verliert sein Körper immer mehr an Kraft und Beweglichkeit. Durch die Erkrankung wird auch die Herz- und Atemmuskulatur angegriffen, so dass sie oft schon im jungen Erwachsenenalter tödlich endet.
Schon kurz nach der Geburt wurde die „Muskeldystrophie Typ Duchenne“ bei Adrian diagnostiziert. Die Krankheit ist schon so weit fortgeschritten, dass er seinen Kopf nicht mehr von alleine drehen kann, auch das Sprechen fällt ihm manchmal schwer. Seine Wirbelsäule hat sich so verdreht, dass sein Körper seitlich geknickt ist.
Die Krankheit brach erst spät bei Adrian aus. Die ersten Lebensjahre wuchs er noch wie die meisten Kinder auf: ging nach draußen spielen, fuhr mit seinen Eltern in den Urlaub und wurde nach der Kita eingeschult. Doch langsam schlichen sich die ersten Symptome der Erkrankung in das Leben der Familie.
Mutter Jacqueline: „Nach seiner Jugendweihe kam es wie ein Schub“
Mit zehn Jahren bekam er seinen ersten elektrischen Rollstuhl. Danach wurde es immer schlimmer. „Nach seiner Jugendweihe kam es wie ein Schub“, erinnert sich Mutter Jacqueline. Adrian konnte seitdem nur noch liegen, musste über eine Maske beatmet werden. Seine Mutter versuchte, ihn weiter zu Hause zu pflegen.
Doch Adrian fiel es immer schwerer, Luft zu bekommen. Er wurde schwächer. Nur eine Trachealkanüle, ein kleines Loch im Hals, das ihn 24 Stunden am Tag mit Sauerstoff versorgt, konnte ihm helfen. Doch die Kanüle ist auch gefährlich: Rutscht sie heraus oder ist sie verstopft, würde Adrian in kurzer Zeit ersticken. „Deswegen haben wir entschieden, dass es besser ist, wenn er auf der Beatmungsstation im Hospiz wohnt“, sagt Jacqueline. Dort lebt er nun schon ein Jahr.
Direkt neben Adrian sitzt seine Mutter, sie prüft noch ein letztes Mal, ob alle medizinischen Geräte im Wünschewagen griffbereit sind. „Sind alle startklar?“, ruft Matthias aus der Fahrerkabine. Er und sein Kollege Gerhard sind ehrenamtliche Helfer beim ASB und bringen Adrian und seine Begleiter an die Ostsee.
Während der Fahrt hört Adrian über Kopfhörer Lieder der „Böhsen Onkelz“. „Er kann jedes Lied auswendig mitsingen“, sagt Jacqueline und lächelt. Für Adrian ist die deutsche Rockband etwas Besonderes. Sie ist seine Verbindung zu seinem Vater, der vor fast genau einem Jahr an einer schweren Krankheit starb. Denn auch er war ein großer Fan der Musiker.
„Sind Nadine und Tino noch hinter uns?“, fragt der 18-Jährige plötzlich besorgt. Jacqueline schaut nach hinten. „Tino und Nadine sind hinter uns. Alles ist gut.“ Adrians Pfleger aus dem Hospiz haben nicht mit in das Auto des ASB gepasst, fahren mit einem separaten Pkw hinter ihnen her, damit sie im medizinischen Notfall sofort helfen können.
Es ist schon Nachmittag als der Wünschewagen im Ostseebad Warnemünde eintrifft. In seinem Rollstuhl wird Adrian vorsichtig von dem Pfleger Tino auf einem Strandübergang Richtung Wasser geschoben. Nadine, Jacqueline, Gerhard und Matthias tragen das Gepäck durch den Sand.
Der Betreiber der Strandoase Treichel hat für Adrian und seine Begleiter Strandkörbe reserviert, damit sie ungestört ein paar Stunden am Meer verbringen können. Dort gibt es auch einen Rollstuhl zum Baden. Ein Mitarbeiter erklärt, wie Adrian zusammen mit seiner Mutter damit ins Wasser könnte. Doch auf dem Spezial-Rollstuhl hat Adrian nur wenig Halt. Aufgeben ist für seinen Pfleger Tino allerdings keine Option.
In die Trachealkanüle in seinem Hals darf kein Wasser kommen
„Ich habe dir versprochen, ich bringe dich ins Wasser - und das Versprechen halte ich auch“, sagt er und hebt Adrian vorsichtig aus seinem Rollstuhl. Er muss genau darauf achten, wie er Adrian trägt, um ihn nicht zu verletzen. Nadine hält währenddessen Adrians Arm, damit dieser nicht herunterrutscht. Jacqueline sitzt bereits im flachen Wasser, als Tino ihr ihren Sohn in die Arme legt. Um den 18-Jährigen herum hat sich eine Traube aus seinen Helfern gebildet, die genau auf ihn aufpassen. Denn in die Trachealkanüle in seinem Hals darf kein Wasser kommen. „Er würde sofort ertrinken“, sagt Tino.
Plötzlich kommt eine kleine Welle auf Adrian zu. Nach einem kurzen Moment der Angst, fängt er jedoch an zu lächeln. Er hat es geschafft, er ist tatsächlich im Meer. Nach einer Minute hebt ihn Tino wieder aus dem Wasser. Adrian will zurück zum Rollstuhl. Er entschuldigt sich, dass er es nur so kurz im Wasser ausgehalten hat. „Du musst dich nicht entschuldigen“, sagt seine Mutter und streichelt seine Hand.
Adrian genießt die Sonne auf seiner Haut und lauscht dem Rauschen des Meeres. Es erinnert ihn an seinen letzten Besuch an der Ostsee. Er war damals sieben Jahre alt und machte mit seinen Eltern und der drei Monate alten Schwester Urlaub auf Fehmarn. „Da war Papa noch dabei“, sagt er, als Nadine ihm einen Marienkäfer auf den Finger setzt.
Adrian beobachtet das kleine Tier, das dort seine Flügel trocknet. „Du hast ein neues Haustier“, sagt seine Pflegerin und lacht. „Na, dann braucht er einen Namen“, entgegnet Adrian. „Ich glaube, ich nenne ihn Sid, wie das Faultier aus dem Film Ice Age.“ Auch ein paar Möwen, die um ein Stück Brot kämpfen, trauen sich immer näher an Adrian heran, der sie ganz genau beobachtet.
Mit dem Wünschewagen ins Ozeaneum in Stralsund
Am nächsten Tag geht es mit dem Wünschewagen ins Ozeaneum in Stralsund. Adrian ist aufgeregt. Er hat sich schon lange mal gewünscht, das bekannte Museum zu besuchen. „Ich habe mir immer Filme darüber angeschaut“, erzählt er. „Die haben sogar einen Hai.“ Eine Mitarbeiterin des Ozeaneums zeigt ihm die einzelnen Aquarien. Viele der Fische kennt Adrian schon aus dem Fernsehen. „Er liebt es, Dokumentationen über Tiere zu sehen“, erklärt Jacqueline.
Erschöpft, aber froh, dass Adrian den Ausflug an das Meer so gut überstanden hat, kommen die „Wunscherfüller“ nach anderthalb Tagen wieder im Hospiz in Dessau an. Jacqueline bedankt sich bei allen mit einer Umarmung. Denn mit ihrem Sohn einfach mal in den Urlaub zu fahren, ist für sie wegen seiner Erkrankung unmöglich.
Auch Adrian ist glücklich, dass sein größter Wunsch wahr geworden ist. Als Erinnerung hat er sich Sand und Muscheln vom Ostseestrand mitgenommen. Die werden von nun an sein Zimmer schmücken und ihm weiter Kraft geben.
Die „Wunscherfüller“ aus Sachsen-Anhalt
Für den ASB-Wünschewagen aus Sachsen-Anhalt war die Reise mit Adrian die sechste Wunschfahrt. Der Wagen ist erst seit Mai im Einsatz. Unter dem Namen „Der Wünschewagen – Letzte Wünsche wagen“ hat der ASB-Regionalverband Ruhr im Jahr 2014 ein Ehrenamtsprojekt ins Leben gerufen. Das hat das Ziel, Menschen mit einer geringen Lebenserwartung ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Das kann zum Beispiel eine Reise, ein Besuch im Stadion oder ein Konzert sein. Inzwischen sind bundesweit 18 solcher Fahrzeuge unterwegs. Das Projekt wird durch Spenden und Mitgliedsbeiträge finanziert. Die Fahrten sind für die Passagiere und Begleitpersonen kostenlos. Bei jeder Wunschfahrt sind zwei ehrenamtliche Helfer dabei, die medizinisch ausgebildet sind.
Mehr Infos im Internet unter: www.wuenschewagen.de
(mz)