Silvesternacht 1978 Silvesternacht 1978: Schneemassen sorgen für Ausnahmezustand in Dessau

Dessau - Am vorletzten Tag des Jahres 1978 war Thomas Zänger gegen Mittag noch in kurzen Hosen und T- Shirt unterwegs. Eine Flasche Rotkäppchen Sekt für die Silvesterfeier holen. Vorn in dem kleinen Lebensmittelladen in der Ebertallee. „Da waren“, erinnert sich Zänger, „bestimmt noch 14, 15 Grad. Plus.“
Am Abend des 30. Dezember 1978 kamen Schnee und der Frost über Dessau
Der Winter schien weit weg - und kam dann umso heftiger. Erst kam der Frost. „Am frühen Abend war das Thermometer plötzlich unter Null“, beschreibt Zänger. Gegen 21 Uhr war es, als es in Dessau zu schneien begann - und nicht mehr aufhörte. Eineinhalb Stunden später fiel der Strom aus. Für kurze Zeit. „Da haben wir uns noch nichts gedacht“, sagt Zänger, heute Chef der Dessauer Stadtwerke. „Das hat es in der DDR immer mal gegeben.“ Mitternacht wurde angestoßen und gefeiert. Ganz normal.
Eispanzer lag über dem Norden der Republik
Im Norden der DDR herrschte da schon Ausnahmezustand. Ein 72-stündiger Schneesturm hatte am 28. Dezember eingesetzt. Der Bezirk Rostock versank unter einem Eispanzer. Die Insel Rügen war komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Bis zu sieben Meter Höhe türmten sich dort die Schneewehen. 9 000 Bewohner der Insel mussten versorgt werden, auch 3 000 Urlauber. Es herrscht Chaos. 40 Dörfer waren nicht mehr erreichbar. Die Kommunikation ist stellenweise zusammengebrochen, Strom- und Telefonleitungen reißen unter der Schneelast.
Und in Dessau? Da liegen am 1. Januar 1979 15 bis 20 Zentimeter Schnee. Es ist klirrend kalt. Es fällt immer wieder der Strom aus. Am Nachmittag ruft die Energieversorgung Halle die Einsatzstufe 1 aus. Zänger, damals 19 Jahre, gerade mit der Ausbildung zum BMSR-Mechaniker fertig, fährt in die Zentrale der Dessauer Energieversorgung in die Wilhelm-Pieck-Straße 55. Der Ernstfall beginnt.
Kohle war festgefroren - Vorräte fehlten
Die Republik ächzt unter den Schneemassen - und hat vor allem in den Kohlekraftwerken ein Problem. Es gab kaum Vorräte. Die Kohle war nach dem Dezemberregen völlig durchnässt, als der Frost kam. Auch im Kraftwerk Vockerode, das damals Dessau versorgte. „Wir haben die Kohle nicht aus den Waggons rausbekommen, die Transportbänder liefen nicht.“
Die Bezirksleitungen reagierten - und schickten tausende Helfer in die Tagebaue und verordneten Stromabschaltungen. „Es wurde damals lange diskutiert“, erinnert sich Zänger. „Am Ende wurden vor allem die Gebiete abgeschaltet, die keine Fernwärme hatten. Man ging davon aus, dass die auch mal mit Kohle und Gas heizen konnten.“ Und es gab eine Festlegung: Niemand sollte länger als sechs Stunden ohne Strom sein.
Dessauer Schüler wurden von der Kreiskatastrophenkommission in die Pflicht genommen
Die „Freiheit“, der Vorgänger der Mitteldeutschen Zeitung, und die „Mitteldeutsche Neueste Nachrichten“ berichten verspätet - und eher klein über das Chaos in der Region. Am 4. Januar macht die „Freiheit“ mit einem Rodelbild auf und meldet „Alle POS voll in Betrieb, BKH-Patienten gut versorgt“. An die Eltern ergeht der Rat, die Kinder wärmer anzuziehen, als sonst in Schulräumen üblich. „Wir erwarten, dass die verantwortlichen Direktoren Eigeninitiative entwickeln und den Schülern Aufgaben übertragen wie Fenster abdichten und Schulgelände beräumen“, sagt Thea Hausschild. Die ist damals Dessaus Oberbürgermeisterin - und Chefin der eigens eingerichteten Kreiskatastrophenkommission. Was genau dort beraten und festgelegt wurde, bleibt unklar. Die Unterlagen fehlen im Archiv.
Am 5. Januar werden in der „Freiheit“ erstmalig Probleme eingeräumt. Der Winterdienst funktioniert nicht überall, obwohl „456 zusätzliche Arbeitskräfte, 73 Lkw, 12 Ladegeräte, neun Schneepflüge und ein neuer Schneelader“ im Einsatz sind. Und die Briketts werden knapp. Die Kreiskatastrophenkommission legt fest, dass die vorhandenen Briketts nur noch für den Bevölkerungsbedarf genutzt werden können. Und man gibt auch kleine Hinweise: Die Dessauer sollen die Plastikeimer für die Küchenabfälle hereinholen. Der Grund: Es waren schon 120 geplatzt.
Russische Soldaten halfen beim Beherrschen des Ausnahmezustands
„Es herrschte damals 14 Tage Ausnahmezustand. Es kam einfach immer wieder neuer Schnee dazu“, sagt Zänger. Ein Blick in die „Freiheit“ bestätigt das. Am 10. Januar wird ein Foto veröffentlicht, das russische Soldaten beim Schneeschippen zeigt. „Wir streuen unsere wichtigsten Straßen umsonst, da der Regen sofort wieder eine Spiegelfläche bildet“, meldete der Rat der Stadt. „Alle Busse sind pünktlich ausgerückt, jedoch kamen die Busse nicht wieder zurück“, erklärte der VEB Kraftverkehr. „Auf den Nebenstraßen ist es unmöglich, einen Bus fahren zu lassen.“
In Dessau war es gespenstisch. Die Bezirksenergiekommission hatte die Stadt aufgefordert, 2,6 Millionen Watt Elektroenergie einzusparen. Um das zu schaffen, wurde die Straßenbeleuchtung abgeschaltet. Mit Folgen: Am 10. Januar meldete die „Freiheit“ 142 Unfälle von Fußgängern. „15 Bürger wurden arbeitsunfähig geschrieben.“ Auch weil irgendwann Sand zum Streuen fehlte. Lauge half auch nur bedingt, obwohl in manchen Nächten bis zu 25 000 Liter auf die Straßen gesprüht wurden. Mit mäßigem Ergebnis: „Im Berufsverkehr“, so die „Freiheit“, „in der Frühe erwies sich das als Tropfen auf den heißen Stein.“
Zänger empfand die Stimmung im Jahr 2002 viel schlimmer
Doch Zänger gibt rückblickend auch zu. „Die große Katastrophe ist in Dessau ausgeblieben. Es gelang, die Fernwärmeversorgung aufrecht zu erhalten. Viele andere Regionen hat es schlimmer getroffen.“ Eines steht für ihn auch fest: „Die Leute hatten damals einen anderen Umgang mit Katastrophen.“ 2002, beim Hochwasser, „da war in Dessau Angst spürbar“. Dem Winter 1978 wurde damals mit einem gewissen Pragmatismus begegnet. „Man war ja gewohnt, mit schwierigen Rahmenbedingungen klarzukommen.“ Die vier Feinde des Sozialismus waren bekannt: Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Abschied von der Kohle mit gemischen Gefühlen
Ist man heute gewappnet für solche Ausnahmewetterlagen? Zänger schüttelt kurz den Kopf. „Ich würde mich immer hüten zu sagen, das würde uns heute nicht passieren.“ Die Abhängigkeit von Strom hat eher noch zugenommen. Gerade bei Heizungen.
Bis April 2019 heizt das Kraftwerk Dessau noch mit Kohle. In klirrend kalten Wintern ist es immer noch ein Problem, die Kohle aus den Güterwaggons zu bekommen. Der Ausstieg ist lange beschlossen. Doch Zänger sieht den Abschied von der Kohle auch mit gemischten Gefühlen. „Es ist am Ende ein sehr verlässlicher Brennstoff weniger. Die Abhängigkeit wird größer.“ (mz)
