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Pflegekinder widersprechen sich

Von Claus Blumstengel 09.12.2004, 20:34

Dessau/MZ. - In erster Instanz war das in Zerbst lebende Ehepaar vom dortigen Amtsgericht im April wegen schwerer Körperverletzung zu mehrmonatigem Freiheitsentzug auf Bewährung verurteilt worden. Gegen dieses Urteil legten beide Berufung ein.

"Ich habe nichts gegen das Ehepaar S., aber was sie gemacht haben, war nicht korrekt", sagte Maik, der als Siebenjähriger 1993 von der Pflegefamilie in einem Dorf bei Zerbst aufgenommen worden war und sich dort "einen Halt und eine vernünftige Betreuung" erhofft hatte. Bis zu jenem Vorfall sei für ihn in dieser Familie auch alles "wunderbar gelaufen".

Doch dann sollte Maik zum ersten Mal selbst waschen, was ihm nicht so recht gelang. Er holte die Wäsche tropfnass aus der Maschine und gab seiner Pflegemutter Solveig S., als sie ihn deshalb ausschimpfte, eine freche Antwort, sagte er vor dem Landgericht aus. Solveig S. habe dann ihren Mann Klaus geholt, der den damals 16-Jährigen mit dem Kopf in die Waschmaschinen-Trommel gestoßen und anschließend auf den Hinterkopf geschlagen haben soll.

An ein Weihnachtsfest erinnerte sich Maik noch, als er sein Skateboard im Zimmer ausprobierte. Als Strafe dafür hätten seine Pflegeeltern von ihm verlangt, das Gerät einen Tag lang im Haus umherzutragen. Von Schlägen berichtete Maik vor Gericht, vor allem gegen seinen Pflegebruder Sven, zum Beispiel als dieser Schwierigkeiten beim Bügeln hatte. Und davon, dass Sven eines Tages ein ganzes Stück Butter essen sollte, und manchmal auch Speck. Ob die Pflegeeltern auch mit ihren beiden leiblichen Kindern so umgegangen seien, wollte ein Schöffe wissen. "Nein", sagte Maik.

Gesprochen habe er mit niemandem darüber, auch nicht während der Hilfeplangespräche beim Jugendamt. Bei diesen Gesprächen, so Maik, sei Pflegemutter Solveig S. immer dabei gewesen.

Maik habe sich von der Pflegefamilie dann "immer mehr abgeseilt", sei häufiger bei Nachbarn gewesen und habe mit Hilfe des für ihn zuständigen Jenaer Jugendamtes die Pflegefamilie dann verlassen können "weil ich nicht mehr klarkam", begründete er diesen Schritt.

Von Schlägen auf den Hinterkopf und "mit der Faust in den Bauch" berichtete Sven, der 1991 mit sieben Jahren in die Pflegefamilie gekommen war. Klaus S. habe bei diesen Exzessen seine Frau Solveig oft zurückgehalten, erzählte deren ehemaliger Pflegesohn. Auch den Vorfall mit seinem Pflegebruder Maik in der Waschküche habe er durch ein Fenster beobachtet. Und aus dem Zimmer des damals zehnjährigen Raffael hätten die Kinder manchmal Schmerzensschreie gehört, wenn die Pflegemutter bei ihm war.

Dennoch, so betonte Sven, habe er sich in der Pflegefamilie geborgen gefühlt. "Ich hatte sie lieb, es war im Großen und Ganzen eine schöne Zeit", blickte er zurück. "Heute habe ich mit der Sache abgeschlossen, möchte keinen Kontakt mehr", beantwortete Sven die Frage von Staatsanwältin Manuela Naujock nach seinem aktuellen Verhältnis zu den Pflegeeltern.

Gesprochen hat auch Sven kaum mal mit jemandem über die Misshandlungen. Eine Lehrerin, der er sich mit seinem älteren Bruder anvertraut hatte, habe Solveig S. anschließend darüber informiert, was den Pflegekindern offensichtlich nicht geholfen hat.

Staatsanwältin Naujock hielt Sven einen Vorfall in der Grundschule vor. Eine Lehrerin habe den Jugendhilfe-Verein, bei dem Solveig S. angestellt war, darauf hingewiesen, dass die leiblichen Kinder der Familie S. stets deutlich besser gekleidet seien als die Pflegekinder. "Weil die ihre Sachen schneller kaputt machten", begründete Solveig S. dies gegenüber der Vorsitzenden Richterin Karen Lachs und verwies darauf, dass sie mit dem Bekleidungsgeld für die Pflegekinder auskommen musste.

Gutachter Dr. Rüdiger Schöning vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Magdeburg stellte die von den jugendlichen Zeugen geschilderten Situationen und Verletzungen als durchaus möglich dar. Die Lippe könne aufplatzen, wenn man mit der flachen Klinge eines Messers darauf schlägt, wie das Sven seiner Pflegemutter vorwirft. Auch dass der Junge das Bewusstsein verlor, als Pflegevater Klaus S. ihm während eines Telefonats nebenbei den Hemdkragen zudrehte, sei nachvollziehbar. Zuvor hatte sich der Gutachter nach kleinsten Details wie dem schnurlosen Telefon und den zu wählenden Ziffern erkundigt.

Bewegend war die Vernehmung des ehemaligen Pflegekindes Raffael, der als Säugling zum Ehepaar S. gekommen war und dort bis zuletzt blieb. Nie hätten Mutti und Papa, wie er das Ehepaar nennt, irgend ein Kind geschlagen, nie habe er so etwas beobachtet, sagte Raffael. Noch heute schreibt er seinen früheren Pflegeeltern und besucht sie manchmal. Am liebsten würde er zu ihnen zurückkehren.

Bei der polizeilichen Vernehmung hatte Raffael allerdings einige der Vorwürfe bestätigt. In einem Brief an das Amtsgericht Zerbst widerrief der Gymnasiast in akkuratem Amtsdeutsch später seine Aussagen, die er nur auf Verlangen seines Pflegebruders Maik gemacht habe. Die Frage von Richterin, Staatsanwältin und Nebenkläger, ob er diesen Brief wirklich selbst verfasst habe, bejahte Raffael.

Die Vernehmung des 13-Jährigen stimmte nachdenklich. Ein leibliches Kind hätte das Recht gehabt, in einem Prozess gegen seine Eltern die Aussage zu verweigern. Raffael, der heute in einem Heim lebt, weil er in einer anderen Pflegefamilie nicht zurecht kam, sieht Solveig und Klaus S. als seine Eltern an. Dass ihm die Möglichkeit der Zeugnisverweigerung nicht eingeräumt wurde, weil er ja nur "Pflegekind" war, erscheint juristisch korrekt, ist menschlich aber nicht zu verstehen.

Raffaels Aussage steht im Widerspruch zu dem Bericht seines Pflegebruders Maik. Der und Raffael seien eines Tages zur Haushälterin der Pflegefamilie gegangen, die im gleichen Ort wohnt. "Wir haben ihr alles erzählt, und sie hat dann geweint", berichtete Maik. "Haltet durch, ihr seid doch bald 18", soll die Haushälterin zu den beiden Pflegekindern gesagt haben.

Voraussichtlich wird es noch zwei Verhandlungstage geben. Als nächste Zeugen sollen Erzieherinnen und Mitarbeiter des Jugendhilfe-Vereins gehört werden, der das landesweite Projekt der Pflegefamilien aufgebaut hat.