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Mit Feststellbremse und Kurbel und einer Schaffnerin

Von THOMAS STEINBERG 29.11.2009, 20:14

DESSAU/MZ. - Vor 115 Jahren, im November 1894, fuhr, noch gasbetrieben, Dessaus erste Straßenbahn, Anlass für die Dessauer Verkehrsgesellschaft (DVG), ihre Traditionsbahn loszuschicken und das regionale Tourismus-Unternehmen Reisewerk zu bitten, eine Stadtführung mit dieser zu übernehmen. Drei Touren à 24 Personen hatte man gemeinsam angeboten - die waren binnen kürzester Zeit ausgebucht, nicht anders jene für das kommenden Wochenende.

Normalerweise bedient Gerolf Vogts einen Sollwertgeber: soll die Bahn beschleunigen, bremsen, halten - ein Joystick leitet die Befehle weiter. Am Sonnabend, spöttelte DVG-Chef Torsten Ceglarek, müsste der Straßenbahnfahrer wieder einmal richtig arbeiten: ein kräftiger Tritt mit dem rechten Fuß lässt die Bimmel schellen, die linke Kurbel dient zur Regulierung der Geschwindigkeit, rechts wird mit viel Geknatter die Feststellbremse bedient. Nimmt man noch den Sandhebel dazu und noch einen Schalter für Licht etc., ist das Cockpit der historischen Bahn, hinter dem der Fahrer selbstverständlich steht, vollständig beschrieben.

Eine Warteschleife musste der Oldtimer noch drehen vorm Bahnhof, um einer modernen Bahn im Linienverkehr die Vorfahrt zu überlassen, dann setzte sie sich rüttelnd in Bewegung und Heidi Pietsch vom Reisewerk übernahm die Führung durch eine Stadt, die wie ein Prospekt an den Fenster vorbei glitt, stets passend zur Chronologie der Stadtgeschichtsschilderung.

Die Straßenbahn in Dessau war bei ihrer Einführung ihrer Zeit voraus und zugleich hinterher - mochte, etwa in Berlin, die "Pferdebahn noch Stand der Technik sein", wie Heidi Pietsch erklärte, konkurrierten längst verschiedene mechanische Antriebssysteme miteinander. In Dessau entschied man sich für die Gas-Bahn, was nicht Wunder nimmt, wenn man weiß oder auf der Fahrt erfährt, dass Wilhelm Oechelhaeuser maßgeblich an der Einführung der Straßenbahn in Dessau beteiligt - und bis 1890 Direktor der Conti-Gas war.

Während der Tour erwies sich die Straßenbahn als eine Art Zeitpfeil durch die Stadtgeschichte. Endeten die Gleise zunächst am Friedhof III, wurden sie in den 30 Jahren bis nach Süd verlängert: Dessau wuchs in dieser Zeit, man erschloss neue Wohngebiete. Mitte der zwanziger Jahre war bereits eine Straßenbahnbremse gelöst worden: das Rondell südlich der Museumskreuzung, heute vor allem an den uralten Platanen erkennbar, damals ein Platz, musste von den Bahnen umrundet werden, bis man 1926 einen Durchstich schuf. Im Laufe der Jahre entstanden immer neue Strecken bis hin nach Roßlau - nach dem Krieg und der Zerstörung der Brücken war diese Verbindung gekappt.

Auf der Rücktour von Süd zum Hauptbahnhof kam es zum angekündigten Abstecher: die Bahn rollte ins Depot ein, stoppte in einer modernen Wartungshalle, wo es ein kleines Büfett gab und eine Ausstellung zur Dessauer Straßenbahngeschichte und Edith Rößchen ihre Fotos zeigen konnte von Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre, als sie Schaffnerin war in der Straßenbahn: "Meine schönste Arbeit war das."

Eine halbe Stunde später, die Bahn hielt gegenüber dem ehemaligen Depot, wurde die Tür aufgerissen, eine Schaffnerin klomm flink die Stufen empor, um sehr fordernd die Fahrscheine zu fordern und irritierte Fahrgäste anzublaffen: "Noch nie 'ne Frau gesehen, wa?" Aber sie müsse halt arbeiten, seit ihr Mann 1915 im Krieg geblieben sei, im übrigen seien Hutnadeln in der Bahn verboten, das Spucken ebenso und beide Füße gehörten auf den Boden und nicht auf den Sitz, "es sei denn, ihr Gegenüber habe nichts dagegen".