Leuchtturm im Nirgendwo Leuchtturm im Nirgendwo: Räucherturm bietet tolle Aussicht - und steht in der Kritik

Dessau - Von YouTube scheint das Video verschwunden, vielen Dessauern ist es vermutlich noch in Erinnerung: Olaf Schubert, der Comedian, steht 2010 nahe des Räucherturms unweit des Dessauer Hauptbahnhofs und erklärt der Welt den Stadtumbau. Das war ein bisschen boshaft, vor allem jedoch sehr lustig. Anlass für Schuberts Stippvisite: die Internationale Bauausstellung (IBA).
Acht Jahre später schrumpft Dessau immer noch - wenigstens etwas weniger. Die IBA indes scheint weitgehend vergessen, die Tafeln entlang des sogenannten Rote Fadens durch das Stadtumbaugebiet sind ramponiert - und der Räucherturm, 24,5 Meter hoch, wird nach seiner Einweihung nur noch selten erklommen, um 130 Stufen über den Dingen zu stehen - und schöne Fotos zu machen.
Etwa 250 Schweine und zehn Rinder wurden im Räucherturm täglich zu Fleisch- und Wurstwaren „verarbeitet“
Offiziell zugänglich gemacht wurde der Räucherturm vor fast genau 10 Jahren, also 2008. Er war ein Projekt der IBA, auf der Sachsen-Anhalt präsentierte, wie sie städtebaulich auf den Bevölkerungsschwund reagiert. Am Räucherturm vorbei lief der „Rote Faden“, der Interessierte durch die Zonen des Dessauer Stadtumbaus führen sollte. Der Turm selbst wacht über eine Fläche, die in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts bebaut wurde und heute ein spannendes Biotop auch seltener Pflanzen bietet - hier blühen tatsächlich die einst von Helmut Kohl beschworenen Landschaften, was einem Projekt der Fachhochschule Anhalt geschuldet ist.
Ursprünglich stand an dieser Stelle eine Feldschlösschen-Brauerei, die 1920 pleite ging. Fortan wurden an der Elisabethstraße ein halbes Jahrhundert lang Backhefen in Zuckerrüben-Melasse gezüchtet. Der dabei anfallende Alkohol wurde im Turm zu Spiritus gebrannt.
Zu seiner namensgebenden Bestimmung fand der Turm, als 1969 die Hefeproduktion wegen Unwirtschaftlichkeit beendet wurde. Die Produktionsgenossenschaft Fleischerhandwerk zog ein. Die montierte eine Treppe an den Turm, brachte Brandschutztüren hinein und nutzte ihn als Kalträucherkammer. Etwa 250 Schweine und zehn Rinder wurden dort täglich zu Fleisch- und Wurstwaren „verarbeitet“.
2006 kaufte die Stadt das Areal für wenig Geld und ließ einen Großteil der Gebäude abreißen
Mit der Wende kam die Privatisierung, es gab Eigentümerwechsel. 2006 kaufte schließlich die Stadt das Areal für wenig Geld und ließ einen Großteil der stehenden Gebäude abreißen. Ursprünglich sollte auch die an den Turm grenzende Halle verschwinden. Erst nach langem Gezerre gab Dessau-Roßlaus Stadtverwaltung das Gebäude dem Skater-Verein „Von der Rolle“.
Wer vor einigen Jahren den Räucherturm erklomm, dem schlug aus den unteren Etagen ein leckerer, in den oberen penetranter Geruch von Geräuchertem entgegen. Ein Umstand, den der Reporter des „Spiegel“ nicht zu erwähnen vergaß, als er im Jahr 2010 über die IBA Stadtumbau in Dessau berichtete. Der Turm miefe vor sich hin, die Leute verdufteten, kalauerte der Reporter. Inzwischen sind die alten Aromen längst verflogen. Dass der Turm und die benachbarte Halle ein Überbleibsel sind von etwas Größerem, erschließt sich auch Laien. Wovon, das können sie nicht mehr erfahren, nachdem ein Sprayer mit großem Ego und kleinem Können die Texttafeln zugeschmiert hat.
Räucherturm bei TripAdvisor auf Platz 11 unter den Top-Sehenswürdigkeiten der Stadt
Genervt von den Graffiti war Martin Förster, Chef des Dessauer Wallwitzburgvereins und als solcher mit einer gewissen Affinität zu alten Türmen ausgestattet. 2017 hatte er übers Internet eine Kampagne gestartet, wollte Geld sammeln für die Reinigung des Turms. Es gab hohe Zusagen, tatsächlich kam aber nur eine kleine Summe zusammen. „Wir standen dann zu zweit da, haben nur wenig machen können und ich hab noch privat Geld draufgelegt.“
Die Stadtverwaltung hat sich zuletzt um das Nötigste gekümmert, lässt Schäden reparieren und alle zwei Wochen im Sommer und alle vier im Winter Unrat beseitigen. Auf seine Vermarktung verzichtet sie. Zumindest fördert die Suche auf städtischen Websites keinen Treffer zutage.
Dennoch hat es der Räucherturm auf Platz 11 unter den Top-Sehenswürdigkeiten der Stadt geschafft - auf der Internetplattform TripAdvisor. Ganz sicher, was von der Sache zu halten sind, sind sich die Nutzer nicht: lobt einer die tolle Aussicht, sieht ein anderer vor allem leere Bierdosen und Graffiti. (mz)