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Gedenk-Aktion in Zerbster Straße Gedenk-Aktion in Zerbster Straße in Dessau: Was hatte der Kofferberg am Samstag zu bedeuten?

Von Annette Gens 06.03.2017, 14:30
Was blieb, waren Koffer: Das Bündnis Dessau Nazifrei erinnert an die Opfer des Nationalsozialismus.
Was blieb, waren Koffer: Das Bündnis Dessau Nazifrei erinnert an die Opfer des Nationalsozialismus. Sebastian

Dessau - Mit ihren Koffern verbindet Christel M. gute Erinnerungen. Auf dem einen saß die heute 67-Jährige als Kind. Da war sie im Zug mit ihrem Vater nach Österreich unterwegs. Der andere Koffer wurde immer dann gepackt, wenn ihre eigenen Kinder ins Ferienlager fuhren. Christel M. steht am Samstag vor der Zerbster Straße 16 und stellt ihre Koffer mit den guten Erinnerungen neben einen Berg von Koffern, die Leid symbolisieren.

Der Kofferberg erinnert an Menschen, die in Nazideutschland verfolgt wurden. Auch Dessauer - Juden sowie Sinti und Roma - mussten ihre Koffer packen und eine Reise antreten, die in Ghettos oder Konzentrationslagern und dort in Gaskammern endete.

Bündnis Nazifrei erinnert an vertrieben Juden, Sinti und Roma

Das Dessauer Bündnis Nazifrei hat am Sonnabend an die Vertreibung und den Mord an Juden, Sinti und Roma im Nationalsozialismus erinnert. Die Aktion, unter andem von Bündnis 90/Die Grünen, Sozialdemokraten und Linken, ist eine Antwort auf den von Nazis in dieser Woche geplanten „Trauermarsch“ anlässlich der Zerstörung Dessaus. Die Akteure mahnen, man dürfe nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Dessau war in der Zeit des Nationalsozialismus nicht Opfer, sondern Täter.

Die 67-jährige Dessauerin M. blickt auf den beklemmenden Kofferberg und sagt, sie sei gekommen, weil sie „der gegenwärtigen rechten Entwicklung unserer Gesellschaft etwas entgegen setzen will“.

Neonazis stören Gedenkveranstaltung

Unweit von der Frau stehen zehn Neonazis, die den Kofferberg kommentieren und Geschichte ignorieren. Als etwa die Akteure daran erinnern, dass das tödliche Gift für die Gaskammern der Konzentrationslager (Zyklon B) in Massen in der hiesigen Zuckerraffinerie produziert wurde. Da schrien die schwarz gekleideten Männer mit den dunklen Sonnenbrillen nach „Beweisen“.

Dass die Koffer in der Zerbster 16 aufgebaut wurden, hat seinen Grund: Dort wohnte Rosa Eger, geborene Abrhamson. Die Witwe wurde 1942 von Nazis ins Warschauer Ghetto deportiert und ermordet. Ermordet wurden neben Juden auch Sinti und Roma. Schüler der Ganztagsschule Zoberberg erinnerten vor dem Kofferberg mit Jana Müller vom Alternativen Jugendzentrum unter anderen an Erna Lauenburger, bekannt unter dem Namen „Unku“. Die 24-jährige Sintessa stammt aus Dessau-Roßlau. Sie wurde mit ihren Töchtern und ihrem Mann 1938 nach Ausschwitz deportiert und ermordet. Über 70 Menschen dieser Minderheit in Dessau erging es wie Lauenburger.

Viele laufen an Aktion vorbei

Vor den Kofferberg stellten sich noch weitere Redner. Unter ihnen zwei Stadträte. André Schlecht-Pesé (Liberales Bürgerforum/Die Grünen) sprach über Flüchtlinge und Flucht. Auch seine Vorfahren waren Flüchtlinge. SPD-Stadtrat Robert Hartmann fragte, wie die Nazis so erstarken konnten und erinnerte an das dunkle Kapitel deutscher Geschichte. Es gab bis zu acht Millionen NSDAP-Mitglieder, bei Wahlen immer sehr hohe Beteiligungen. Was führte zu dieser Polarisierung? Gewalt!

Der Redner beleuchtete auch die Gegenwart. „Wir müssen Sprachlosigkeit überwinden und Streitkultur aufleben lassen.“ Die Worte allerdings verhallen nicht nur in den Ohren der anwesenden Neonazis. Die wenigen Passanten, die am Samstagvormittag in der Zerbster Straße flanierten, wechselten entweder die Straßenseite oder gingen mit vollen Einkaufstaschen direkt an den Kofferbergen vorbei - ohne sie eines Blickes zu würdigen. (mz)