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Eine ganze Stadt in Ordnern und Schubkästen

Von Matthias Bartl 29.01.2006, 16:16

Dessau/MZ. - Später schlug er sich durch die brennende Stadt nach Kleinkühnau durch, wo seine Eltern wohnten. "Da habe ich das brennende Dessau gesehen. Die schöne Stadt. Alles lag in Trümmern, überall Flammen." Vielleicht ist ihm, als er durch die zerbombte Kavalierstraße kam, schon zum ersten Mal der Gedanke gekommen: "Ich sammele Bilder von der Kavalierstraße, wie sie einst aussah, und baue sie mir im Foto wieder auf."

Hunderte Ansichten

Inzwischen könnte der Mann, der heute seinen 87. Geburtstag feiert, fast das ganze alte Dessau aus Fotografien und Ansichtskarten wieder auferstehen lassen. Das ist kaum übertrieben - in Huhns Haus in Mildensee ist sorgfältig gesammelt und archiviert, was einst die Pracht an der Mulde war, Hunderte Ansichtskarten, rund 170 davon 100 Jahre alt und älter. Zeitungsartikel ohne Zahl. Broschüren. Zeichnungen. Filme. Das ganze Dessau in Schubkästen und Ordnern. Und im Kopf noch viele Pläne, seine Schätze auf die eine oder andere Art auch anderen zugänglich zu machen.

Pläne mit 87 macht - mit Verlaub gesagt - nicht jeder. Huhn schon. Zwar hat auch er sein Päckchen an Gebrechen und Krankheit zu tragen, aber der Sammler und Hobby-Historiker fühlt sich immer noch gut und fit genug, um an Vorhaben für die Zukunft zu arbeiten. Das ist ohnehin sein Lebenselixier: "Ich habe immer nur gearbeitet", erklärt er, wo sein Jungbrunnen steht. Huhn ist Tischlermeister gewesen, wovon heute noch die Möbel in seiner Wohnung künden. Er war Lehrmeister und Berufsschullehrer im Bauhaus, Konstrukteur im Waggonbau, nebenamtlicher Fachlehrer für Konstruktion an der Ingenieurschule Magdeburg, Leiter der Fotoabteilung im Betonprojekt, hat immer auch gelernt, war auf der Suche nach Herausforderung. Bis zum 71. Lebensjahr, bis zur Wende hat er im Beruf gestanden.

Und dann sozusagen ein zweites Leben angefangen. Rudi Huhn ist den Dessauern und auch vielen anderen, die sich für die Geschichte der Stadt interessieren, als Buchautor bekannt und als Verfasser ungezählter Pressebeiträge zur Historie Dessaus. Am bekanntesten aber sind seine bislang fünf Bücher. Zweimal hat er "Dessau in alten Ansichten" wieder auferstehen lassen, hat sich "Dessau in alter Gastlichkeit" ebenso zugewandt, wie "Dessau-Mildensee" wie "Dessau und der Alte Dessauer". Buch Nr. 6 ist derzeit in Arbeit: "Dessau vor 100 Jahren" wird es heißen.

Und auf seinem Wohnzimmertisch hat er auf ungezählten kleinen Kärtchen schon die Abfolge, die innere Struktur eines Werkes entworfen, das "Vom Hoftheater zum Café ,Altes Theater'" heißen könnte und sich ausschließlich mit der Geschichte des Hauses in der Kavalierstraße befast, an dessen einzigartige Vergangenheit heute nur noch leise verbleichende Dokumente erinnern.

Da ist Rudi Huhn in seinem Element, und wer sich auf ihn einlässt, muss Zeit und Interesse mitbringen. Die Zeit ist nicht vertan - Huhn, der altersmagere Mann mit dem freundlichen Lächeln ist eine Fundgrube an Geschichten zur Geschichte, einer, der gern auf Besonderheiten hinweist, der immer noch kindlich staunen und sich erfreuen kann an alter Dessauer Schönheit. Und an Besonderheiten, die wohl kaum einer sonst hat: Etwa einem Foto, das kurz nach dem Feuerwehreinsatz am Alten Theater gemacht wurde, als der Bau am 25. Januar 1922 abbrannte - es zeigt verkohlte Balken und rußgeschwärztes Mauerwerk, bizarr behängt mit Eiszapfen aus gefrorenem Löschwasser.

Ausstellung im Sommer

Überhaupt: die Kavalierstraße. Der geistige Ausgangspunkt seiner Sammelleidenschaft. Da hat Rudi Huhn "fast zu jedem Haus Bilder", das "könnte eine Ausstellung werden". Hofft er jedenfalls. Vorgeschlagen hat er dies schon einmal, doch vorläufig ist nichts daraus geworden. "Vielleicht später", meint der Jubilar. Der auch an einem Projekt arbeitet, das er "Damals - gestern - heute" nennt, und Blicke ins Dessauer Stadtbild vor dem Krieg, nach dem Krieg und eben heute erlaubt. Vergleiche, die die "unwahrscheinlichen Verluste" deutlich machen, die Dessau erlitten hat. Für Mildensee bereitet er für den Sommer eine Ausstellung vor, die im Napoleonsturm zu sehen sein soll und das Wachsen Mildensees aus den Dörfern Scholitz, Pötnitz und Dellnau dokumentiert. "An Material mangelt es da nicht." Und nach dem Erfolg mit den Kalendern aus Dessau, die er mit Copy-Lein für 2006 zum ersten Mal gemacht hat, sollen auch für 2007 wieder zwei Kalender entstehen. Selbstverständlich mit Bildern aus Rudi Huhns schier unerschöpflichem Fundus.

Es ist schon so: Bei allem, was ihm noch an Ideen durch den Kopf geht, bei allen Vorhaben und Gedankenblitzen wird Rudi Huhn am Ende gar nichts anderes übrig bleiben, als 100 Jahre alt zu werden.