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Dieter Hildebrandt in Dessau Dieter Hildebrandt in Dessau: Erst richtig lästern und dann beten

Von Thomas Altmann 07.09.2006, 15:52

Dessau/MZ. - Marienkirche, Mittwochabend: "Ausverkauft" steht ihm auf die Stirn geschrieben, draußen auf dem Plakat. "Ausgebucht - Mit dem Bühnenbild im Koffer" heißt das Buch, aus dem er dann doch noch lesen wird. Ausgebrannt erscheint er nicht, obwohl auch Dieter Hildebrandt in jenem Alter angekommen ist, in dem sich manche Zwiebel zu häuten beginnt.

"Ich bin ein armes Zwiebelchen, nimm mir das nicht übelchen", zitiert Hildebrandt Joachim Ringelnatz, um Günter Grass eine trockene Träne ins Auge zu reiben, um zu erzählen, was man damals alles hätte sehen können, so man sehen können konnte: ein Zeigefinger en passant. Und überhaupt Deutschland, der Fußball, das Fahnenmeer, ein Canetti-Zitat: Fahnen seien sichtbar gemachter Wind. Und Zitate ersparen dem Kabarettisten viel Arbeit: Bildzeitungs-Poesie, richtig schön lächerlich.

Er hätte noch nie einen solch "dämonischen Auftritt" gehabt, waren seine ersten Worte. Eingeschüchtert sei er nicht. Der Beweis folgt später. Pilatus verhöre Jesus und frage, ob er nun der Sohn Gottes sei. Jesus: "Bitte nageln Sie mich jetzt nicht fest". Hildebrandt aber nagelt sie fest, seine "Papaphobie", und seine Abneigung gegenüber der Renaissance der aus der Zeit fallenden Zeremonien. Erhöbe sich heute ein Reformator, er stieße auf Interesselosigkeit. Offen bleibt, ob er das katholische Bayern oder die protestantischen Kernlande meint. Da hat man ja auch andere Probleme, Wirtschaftsreformen, wie allerorts. Hildebrandts Bild auf die chronische Reform: Das Leben hätte sich total verändert, als soundso ein Dreier im Lotto gewann. Rumgemerkelt wird auch. Schließlich kann Hildebrandt nicht einfach los lesen, wenn so viel nicht passiert.

Dann liest er, wie er denkt und spricht, diese Tempiwechsel, die Einschiebsel, Trugschlüsse, Variationen, Nebenthemen - typisch Hildebrandt. Auf den 255 Seiten mag der alte Scheibenwischer zuweilen auf Intervall laufen, hier schnurrt er pausenlos. Hildebrandt fährt immerfort Bahn. Die Bahn verspätet sich. Der Autor ärgert sich. Herr Mäusel nervt, Günter Netzer auch und Feng-Shui sowieso. Der Autor bereist, trocken der Humor, die kleinen zwischenmenschlichen Haltepunke, die Stationen der Dummheit und, bissig zuweilen, die vermeintlich großen Bahnhöfe der Eitelkeit. Was ein Bahnhof sei, klären Institutionen. Und wenn Hildebrandt von "lösungsorientierten Gesprächen" hört, bekommt er Appetit auf eine "sättigungsorientierte Bratwurst".

Die soll er haben, aber erst wird signiert und - du ahnst es nicht - gebetet. So bleibt es wahr. Am Ende betet auch er, nur anders.