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Dessau-Roßlau Dessau-Roßlau: Wenn Schreiben wie eine Sucht ist

Von DANNY GITTER 07.12.2010, 20:56

DESSAU-ROSSLAU/MZ. - "Geschichten liegen auf der Straße, man muss sie nur aufheben", ist das Motto von Ursula Hörig. Die Dessauer Schriftstellerin kennt ihre Quellen der Inspiration für immer neue Stoffe. Alltägliche Begebenheiten und Anekdoten werden dann zu Erzählungen. Manchmal reicht aber auch nur ein einziger Spruch, um einen Faden für eine Geschichte zu haben. So wie vor vielen Jahren als Hörig an einer Hauswand hinter der Marienkirche "Stoppt mich, bevor ich mich töte" las. Es war der Ausgangspunkt für eine Erzählung über den verzweifelten Hilferuf eines jungen Menschen und einer gleichgültigen Gesellschaft.

Doch die Inspiration überhaupt zu schreiben, kam Hörig schon sehr viel früher. Aufgewachsen im nationalsozialistischen Deutschland, war es für die gebürtige Dessauerin eine frühe einschneidende Erfahrung, die geliebte Heimatstadt in sehr jungen Jahren verlassen zu müssen. Zwangsevakuiert durch den Krieg verschlug es Hörig nach Frose, eine kleine Gemeinde in der Nähe von Aschersleben. Gefangen zwischen der Sehnsucht nach Leben und dem harten Kriegsalltag war das Schreiben eines Tagebuchs ein seelisches Ventil und zugleich sinnvolle Beschäftigung. "Gerade an den Winterabenden hatten wir sehr viel Zeit und in dem Ort war nichts los", erinnert sich die Dessauerin noch heute.

Die Rückkehr in die Geburts- und Heimatstadt nach dem Krieg war da der logische Schritt. Schule und Ausbildung folgten Anstellungen als Zahnarzthelferin und später als Kundenberaterin im Kaufhaus "Magnet".

Die große Leidenschaft, das Schreiben, lief dann immer nach Feierabend im Dessauer Zirkel schreibender Arbeiter. Zunächst auf Traumgeschichten fixiert, lenkte der damalige Leiter Werner Steinberg schnell Hörigs Fokus auf realitätsbezogene Erzählungen. Alltägliche Ereignisse und Begebenheiten waren dann der Stoff und das Fundament für die Schreibkarriere. Der Griff zur Feder entwickelte sich mehr und mehr. Wie eine Sucht. "Irgendwann habe ich sogar nachts und im Urlaub geschrieben", blickt Hörig zurück. "Es hat in mir gebrannt", beschreibt sie das Gefühl.

Der nächste logische Schritt folgte. Hörig hing ihren Beruf als Kundenberaterin an den Nagel, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Mittlerweile auch den Abschluss eines Sonderkurses des renommierten Leipziger Literaturinstituts "Johannes R. Becher" in der Tasche, leitete sie drei schreibende Arbeiterzirkel und brachte Anfang der 70er Jahre im Rostocker Hinstorff Verlag ihre ersten Werke heraus. Dem Debüt "Palermo und die himmelblauen Höschen" als Erzählungen folgte bald mit "Timmes Häuser" der erste Roman.

Immer standen und stehen heute noch Menschen aller Generationen mit ihren persönlichen Geschichten im Fokus der Schriftstellerin. Die Protagonisten und Orte des Geschehens leicht verfremdet, können sich viele Leser und Hörer in den Geschichten wiederfinden. Neben zahlreichen Texten veröffentlichte Hörig auch Hörspiele. Einzelne Erzählungen schafften es schon vor dem Fall der Mauer ins westliche europäische Ausland und bis nach Kanada. "Ich habe mich aber nie getraut, einen Antrag auf eine Lesung im westlichen Ausland zu stellen", sagt Hörig.

So war dann auch für sie die Wende der erste Schritt, einst unerreichbare Orte zu besuchen. Doch neben der neugewonnenen Reisefreiheit beobachtete Hörig auch genau den damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel. In "Ungehörige Begebenheiten", 2003 im Dessauer Felis-Verlag erschienen, fasste sie ihre Beobachtungen in 19 Erzählungen zusammen. Ausgehend vom Mauerfall im November 1989 beschreibt die Schriftstellerin Protagonisten, die im folgenden Jahrzehnt auf der Suche nach Orientierung sowie neuen und alten Werten sind.

Hörig selbst ist vielem von früher auch in neuer Zeit treu geblieben. Neben dem Schreiben verfasste die Dessauerin auch Hörspiele für Radio Bremen und den Mitteldeutschen Rundfunk. Einen ihrer drei Schreibzirkel leitet sie auch heute noch ehrenamtlich. Ein Buch über die Zeit der Zwangsevakuierung im Krieg ist schon in Planung. Langweilig wird es der Rentnerin somit nie, seit sie vor langer Zeit das Schreibfieber gepackt hat.