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Dessau-Roßlau Dessau-Roßlau: Vertrautes Bild verschwindet

Von DANNY GITTER 29.06.2011, 20:08

DESSAU/ROSSLAU. - Nein, sie bereuen es nicht, noch einen Musterungsbescheid bekommen zu haben und für tauglich befunden worden zu sein. Der eine hätte dann vielleicht nie den Weg zu seinem Traumjob gefunden und der andere wäre nicht so zielgerichtet sein geplantes Studium angegangen. André Sandow und Johannes Ott sind die letzten ihrer Art. Sie sind Zivildienstleistende beim Dessauer Behindertenverband.

Für den Gesetzgeber ist es nüchtern betrachtet ein Verwaltungsvorgang, der sich da in diesen Tagen vollzieht. Der Zivildienst endet zum 30. Juni und wird ab 1. Juli vom Bundesfreiwilligendienst abgelöst. Doch es steckt eben mehr dahinter. Ein vertrautes Bild in Krankenhäusern, Altenheimen und anderen öffentlichen Einrichtungen wird verschwinden. Scharen junger Männer, die als Hilfskräfte wertvolle Dienste leisten, wird es so in der Form nicht mehr geben.

"Für den Bundesfreiwilligendienst hätte ich mich nicht entschieden", sagen Sandow und Ott unisono. "Bei Freiwilligkeit wäre ich doch nie auf den Trichter gekommen, mich in einem Kindergarten zu bewerben", resümiert Sandow. Der gelernte Elektriker hatte vor seinem Dienstantritt im Mai vorigen Jahres schon in seinem Beruf gearbeitet. "Durch diesen Zwang musste ich damit klar kommen und das Beste daraus machen", so der 21-Jährige. Aus Interesse bewarb er sich für die Betreuung im integrativen Kindergarten des Dessauer Behindertenverbandes. Hier verbringen täglich Kinder mit und ohne Behinderung ihre gemeinsamen Stunden. Für Sandow hieß das Frühstück machen, mit den Kindern singen, tanzen und basteln, Hilfsmittel anlegen und Windeln wechseln statt auf der Baustelle sich um die Elektrik kümmern. "Das ist eine total andere Welt, mit nichts zu vergleichen, was ich vorher gemacht habe", erzählt er.

Diese andere Welt hat ihm aber irgendwann so gut gefallen, dass sich Sandow entschied, beruflich neu anzufangen und Heilerziehungspfleger zu werden. Für ihn heißt das die nächsten zwei Jahre nochmals die Schulbank zu drücken und nicht weiter im elterlichen Betrieb zu arbeiten. Obwohl er in seinem alten Beruf sehr gut war, schnell Karriere gemacht hätte, entschied er sich um.

Vielleicht sei es anfangs eine unbewusste Entscheidung für den Zivildienstplatz im integrativen Kindergarten gewesen, wo er aber schon etwas im Hinterstübchen hatte, mutmaßt der 21-Jährige heute. Denn es hätte leichtere, weniger beanspruchende Jobs als Zivildienstleistender gegeben. Aber instinktiv entschied er sich dann doch für die Betreuung von Kindern mit Behinderung. Angesichts seiner Zukunftspläne bereut Sandow diesen Schritt natürlich nicht, auch nicht als einer der letzten eingezogen worden zu sein. Durch den Zivildienst kam bei ihm eins zum anderen, und er verlängerte freiwillig um drei Monate. Bis Ende April war er der letzte Zivildienstleistende im integrativen Kindergarten. Die Zeit bis zu seiner Ausbildung im neuen Ausbildungsjahr überbrückt der ehemalige Zivi in seinem alten Beruf.

Als Überbrückung findet Johannes Ott den Zivildienst gut. Der 19-jährige Akener arbeitet im Fahrdienst des Behindertenverbandes. "Durch den Dienst hatte ich nochmals ein Jahr Zeit zur Orientierung und es war mal ein Jahr ohne Lernen", sagt der ehemalige Abiturient. Was er ohne Zivildienst gemacht hätte, darüber kann er nur spekulieren. Gejobbt oder gleich studiert? Er weiß es nicht, und sein Dienst hat ihm diese Entscheidung auch glücklicherweise abgenommen. Jetzt weiß Ott, dass er ab dem kommenden Wintersemester Mathematik und Physik auf Lehramt studieren will. Ott hätte auch freiwillig seinen Zivildienst von neun auf sechs Monate verkürzen können. "Fast ein halbes Jahr zu Hause hocken ist nicht mein Ding", sagt er. Stattdessen verlängerte er auf zwölf Monate. Noch bis Ende Juli wird er früh um Fünf seine tägliche zweieinhalbstündige Tour bis zum Kindergarten fahren und nachmittags bis um Fünf das Ganze retour.

Vom "verlorenen Jahr" möchte er im Zusammenhang mit seinem Dienst nicht sprechen. "Es ist eine Lebenserfahrung und ein erster Einblick in die Jobwelt", bilanziert der Akener. Freiwillig hätte er das aber nicht gemacht. Dann hätte er gleich studiert oder versucht, viel Geld zu verdienen. Der Bundesfreiwilligendienst wäre mit seinem Taschengeld von 330 Euro monatlich keine Option für Ott gewesen.

Jan Geier, der Geschäftsführer des Dessauer Behindertenverbandes kann auch noch keinen Freiwilligen vermelden. Mit Minijobbern versucht er die bis zu sieben Fahrdienst-Zivis zu ersetzen. Für die Zeit nach seinem letzten Zivi übt Geier sich in Zweckoptimismus "Es bricht nicht alles zusammen. Irgendwie wird es weitergehen."