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Dessau-Roßlau Dessau-Roßlau: Mit altem VW fing alles an

Von DANNY GITTER 10.10.2010, 20:13

DESSAU-ROSSLAU/MZ. - Helgard Böttcher kann sich noch genau erinnern. "Mit einer Reiseschreibmaschine und alten Möbeln haben wir damals angefangen." Damals, das war im Oktober vor 20 Jahren. Sechs Tage nachdem Deutschland wiedervereinigt war hoben Böttcher und ihre Mitstreiter den Dessauer Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) aus der Taufe. "Ich wollte einfach mal was Neues machen", blickt die erste Vorsitzende des Kreisverbandes heute zurück. Die damals 35-Jährige hatte zwar schon Berufserfahrung bei der Volkssolidarität gesammelt. Einen Wohlfahrtsverband in einem anderen System aufzubauen, war aber eine echte Herausforderung.

Egal ob Verwaltung, Gesetze und Vorschriften - das Vertraute hatte seine Gültigkeit verloren und das Neue musste erst mühsam erlernt werden. "Ohne die Aufbauhilfe aus Ludwigshafen hätten wir das kaum geschafft", ist sich Böttcher sicher. Nach und nach wurden die ersten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) bewilligt. Die Sozialstation und die Beratungsstelle konnten ihre Arbeit aufnehmen. Anders als heute, war in den ersten Jahren alles noch ein ziemlicher Flickenteppich. Aus zwei Einraumwohnungen in der Steneschen- und Radegaster Straße für die Sozialstation und die Beratungsstelle sowie einem fast ausrangierten Volkswagen aus Ludwigshafen als erstes Fahrzeug für das Essen auf Rädern, wurde ein stattliches Anwesen in der Parkstraße mit modernem Fuhrpark vor der Tür. Der heute 87-jährige Fritz Lange, als Gründungsmitglied Mann der ersten Stunde, ist sichtlich stolz auf das Erreichte. "Es ist alles sehr schön geworden", freut er sich, wohlwissend das der heutige Status quo vieler Investitionen bedurfte.

Das dreistöckige Anwesen war vor dem Einzug der Dessauer Awo im Mai 1995 ein leer stehendes Laborgebäude. "Alles war von oben bis unten gefliest", erinnert sich Kerstin Becker von der Sozialstation. In einer umfassenden Sanierung mussten auch Wände rausgerissen und neu verputzt werden. Der daraus entstandene großzügige Saal im Erdgeschoss bot am Sonnabend zum 20-jährigen Jubiläum genug Platz zum Gedankenaustausch über das Erreichte aber auch die neuen Herausforderungen.

Von denen gibt es nicht wenige. Vieles hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten verändert. Mit den Schattenseiten ist die Awo in ihrer Arbeit regelmäßig konfrontiert. "Wir spüren täglich den erhöhten Pflegebedarf bei älteren Leuten", erzählt Becker, die von der ersten Stunde an bei der Sozialstation in der Altenpflege arbeitet. Die rapide alternde Bevölkerung verlangt immer mehr nach häuslicher Krankenpflege. "Rund 90 Prozent der alten Leute wollen in ihrer eigenen Wohnung bleiben. Das vertraute Umfeld ist sehr wichtig", so Becker. Die gesetzlichen finanziellen Zuwendungen decken kaum den Mehrbedarf. Pflege im Akkord und Minutentakt ist Becker zuwider. "Die Leute wollen keine Tabletten, die wollen erzählen", schildert sie ihre Beobachtungen. Dieses Bedürfnis kann die Awo durch ihre zwei Zivildienstleistenden zum Teil kompensieren. Neben dem Ausfahren von Essen auf Rädern, helfen diese auch bei Einkäufen, begleiten zu Arztbesuchen und gehen mit Senioren spazieren.

Stefan Wagner, einer der derzeitigen Zivis sieht in seinem Dienst einen entscheidenden Vorteil. "Der Zivildienst ist eine gute Lebenserfahrung, wer das nicht macht, verpasst etwas." Nach den Plänen der Bundesregierung entfällt mit der Aussetzung der Wehrpflicht auch die Pflicht zum Ersatzdienst. Eine Neuregelung steht noch aus. "Wir können das dann nur durch das Freiwillige Soziale Jahr oder Pauschalkräfte kompensieren", wagt Becker einen vorsichtigen Blick in die Zukunft. Hans Christian Sachse, beobachtet die Entwicklungen im Pflegebereich mit großer Sorge. "Der Wettbewerb ist zum Teil ruinös", sagt der aktuelle Vorsitzende des Dessauer Kreisverbandes.

In anderen Bereichen wird die Arbeiterwohlfahrt in der Doppelstadt als erster kompetenter Ansprechpartner wahrgenommen. Beratungen zu Alkohol und Spielsucht bietet Viola Kreideweiß im Dachgeschoss in der Parkstraße 5 an. "Die Anzahl unserer Beratungen ist konstant bei schrumpfender Bevölkerung", konstatiert die Suchtberaterin, die in den kommenden Jahren erhöhten Bedarf in einem ganz anderen Bereich sieht. "Der Beratungsbedarf bei Online-Sucht wird zunehmen", prognostiziert Kreideweiß.

Gesellschaftlicher und technischer Wandel stellt nicht nur die Arbeiterwohlfahrt vor immer neue Anforderungen. Als Anlaufpunkt für Selbsthilfegruppen sowie Begegnungsstätte für andere Bedürftige gibt es auch in Zukunft in der Parkstraße viel zu tun. Soziale Umbrüche und eine alternde Gesellschaft scheinen dabei die größten Herausforderungen zu sein.