Dessau-Roßlau Dessau-Roßlau: Einzelschicksale in Aktenbergen
DESSAU/MZ. - Ein einfacher Eichentisch steht im Raum. Vor Ulrich Bauer, dem Direktor des Amtsgerichts Dessau-Roßlau, stapeln sich Familien- und Insolvenzakten in verschiedenen Farben. Besonders eilige Vorgänge befinden sich in einer roten Hülle. Andere sehen gelbbraun aus. Die Aktenberge wachsen. Zu den laufenden Verfahren kommen jeden Tag etwa 10 neue Insolvenzanträge hinzu. Auf Bauers Tisch landen an manchen Tagen vier, fünf der "frischen Akten". Mal umfasst ein Insolvenzantrag nur drei Seiten, mal sind es 50 Blätter. Alle paar Wochen werden mehrere zehntausend Blatt Papier angeliefert, um Versorgungsengpässen vorzubeugen.
Viele sind betroffen
In den Akten sind Einzelschicksale aus dem Landgerichtsbezirk Dessau-Roßlau dokumentiert: Schicksale von Unternehmern, die ihr Glück versucht und Schiffbruch erlitten haben, oder von Arbeitslosen und Geringverdienern, gelegentlich aber auch von Ärzten und Freiberuflern wie Architekten oder Rechtsanwälten. Alle gerieten in Zahlungsschwierigkeiten. Viele stellen selbst einen Insolvenzantrag, um sich aus der verquickten Situation zu befreien. In anderen Fällen sind es die Gläubiger, die das Verfahren betreiben.
Großer Aufwand für Verfahren
Im Amtsgericht Dessau-Roßlau kümmern sich vier Richter (mit einem Teil ihrer Arbeitskraft), acht Mitarbeiter in eigens gebildeten "Serviceeinheiten" und drei Rechtspfleger um die Insolvenzverfahren. Amtsrichter Ulrich Bauer prüft die Zulässigkeit der Anträge und vergibt Aufträge an Gutachter, möglichst innerhalb eines Monats zu prüfen, ob ein Insolvenzverfahren zu eröffnen ist. "In aller Regel", erklärt Bauer, "wird im Falle der Verfahrenseröffnung der Sachverständige auch zum Insolvenzverwalter oder bei Verbraucherinsolvenzen als Treuhänder bestellt."
Ulrich Bauer spricht in Bezug auf das Verbraucherinsolvenzverfahren von einer "rechtspolitischen Wohltat, die der Staat für Schuldner bereitstellt". Die Wohltat ist: "Menschen, die unverschuldet in eine finanzielle Schieflage geraten sind, können bereits nach sechs Jahren wieder ohne Schulden weiterleben, indem ihnen die Restschuld erlassen wird", erklärt der Amtsgerichtsdirektor. Früher, vor der Einführung der Privatinsolvenz im Jahr 1999, seien manch überschuldete Menschen 30 Jahre lang auf keinen grünen Zweig mehr gekommen.
Manch einer der Betroffenen ist leichtfertig in die Schuldenfalle getappt: Es wurden teure Autos finanziert, hohe Konsumentenkredite abgeschlossen und hohe Handy-Rechnungen nicht beglichen. Bei Versandhäusern wurde mehr bestellt, als man bezahlen konnte oder es liefen Mietschulden auf. "Häufig kommt es auch vor, dass die Leute ein Haus gebaut haben, dann arbeitslos werden und die Schulden bei der Bank nicht mehr zurückzahlen können", erzählt Ulrich Bauer. Auch die Folgen einer Scheidung führen immer wieder in den Ruin. Manchmal kommen auch außergewöhnliche Fälle auf Bauers Schreibtisch: So verursachte jemand als Pilot grob fahrlässig einen Hubschrauberabsturz und wurde von der Haftpflichtversicherung für den Schaden in Regress genommen - und dadurch entstand ein Schuldenberg von rund 250 000 Euro.
Bei Unternehmen wird vom Insolvenzverwalter versucht, vor allem für den Erhalt der Arbeitsplätze, den Fortbestand zu erreichen, indem eine Einigung mit den Gläubigern herbeigeführt oder ein Investor gefunden wird. Gelingt dies nicht, werden die Firmen liquidiert. "Aber vor allem geht es bei Regelinsolvenzen darum, die schwarzen Schafe der Unternehmen aus dem Verkehr zu ziehen, die ihre Verbindlichkeiten nicht zahlen." Durch schlechte Zahlungsmoral würden viele Firmen in Schwierigkeiten gebracht.
Trotz der Aktenflut gibt es aber auch erfreuliche Nachrichten: 2010 wurden erstmals weniger neue Insolvenzanträge eingereicht als in den Jahren zuvor. "Bis zum Ende des Jahres", prognostiziert Ulrich Bauer, "werden etwa 580 Personen eine Privatinsolvenz beantragt haben." Im Jahr zuvor hatten Bauer und seine Mitarbeiter noch 625 Verfahren auf dem Tisch. Selbst das waren aber schon weniger als im Spitzenjahr 2007. Damals wurden 791 Anträge eingereicht.
Bei den Unternehmen ist das Jahr 2002 trauriger Rekordhalter. Damal wurden mehr als 1 100 Unternehmensinsolvenzen gezählt. Seitdem ging das Aufkommen zurück. Bauer begründet das mit "gewissen Sättigungstendenzen". Viele Firmen seien bereits abgewickelt worden. "Außerdem erholt sich gerade die deutsche Wirtschaftslage, so dass die Firmen, die noch geblieben sind, neue Aufträge bekommen."
Risiko der Selbständigkeit
Die Unternehmen, die jetzt in Zahlungsschwierigkeiten geraten, sind nur noch selten größere Betriebe. Oft sind es kleinere Gewerbetreibende, die erfolglos versucht haben, sich selbständig zu machen: Bauunternehmen oder Restaurantbesitzer, aber auch Ärzte und Rechtsanwälte. Bauer sieht eine Vielzahl von Ursachen gegeben, warum Verbindlichkeiten nicht mehr bedient werden können. Eines ist dem Richter aber zuletzt häufiger aufgefallen. "Viele neue Selbständige verkennen, dass Umsatz nicht gleich Gewinn ist."