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Dessau-Roßlau Dessau-Roßlau: Ein begehbares Gedächtnis

Von STEFANIE HOMMERS 08.11.2010, 18:45

WÖRLITZ/MZ. - Ein Pfarrer im Ruhestand, eine Gruppe von Gymnasiasten aus Dessau, fünf Langzeitarbeitslose aus Wörlitz, eine Doktorandin der Martin Luther Universität Halle-Wittenberg - das sieht auf den ersten Blick nicht gerade nach einer verschworenen Gemeinschaft aus. Dennoch eint all diese (und noch ein paar mehr) Menschen etwas: Ohne ihr Engagement gäbe es jenes Denkmal nicht, das am Montag in Wörlitz feierlich seiner Bestimmung übergeben wurde.

Kahle Fläche Geschichte

"Gedenke, vergiss nie" mahnt die Inschrift in hebräischen und lateinischen Lettern am Eingang des von der Architektin Anne Sommer gestalteten Kunstwerkes. Es steht dort, wo sich bis 1938 der jüdische Friedhof des Ortes am Tor zum Dessau-Wörlitzer Gartenreich befand.

Im Inneren finden sich 300 Grabsteinfragmente, die im Jahr 1987, knapp 50 Jahre nach der Zerstörung des Gottesackers durch die Nationalsozialisten, eher zufällig bei Bauarbeiten in einem Innenhof wieder entdeckt wurden. Die Grabsteine waren damals zerschlagen und zur Pflasterung von Höfen sowie zur Wegbefestigung verwendet worden. Auch die Friedhofsmauer wurde abgerissen. Übrig blieb eine kahle Fläche, im Laufe der Jahrzehnte von Rasen überwuchert, gesichts- und geschichtslos.

"Misstraue den Grünflächen", dieser Satz des Schriftstellers Heinz Knobloch wurde denn auch nicht zufällig das Motto einer Initiativgruppe, die sich am 70. Jahrestag der Pogromnacht zusammenfand. Vertreter der Stadt Wörlitz, der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz und des Zentralrates der Juden in Deutschland gehörten ihr an; die Projektleitung übernahm der Dessauer Pfarrer i. R. Dietrich Bungeroth. Der engagierte Theologe holte eine Gruppe von Gymnasiasten aus dem Dessauer Philanthropinum mit ins Boot.

Die Jugendlichen, allesamt Teilnehmer am evangelischen Religionsunterricht, machten sich an eine mühevolle und langwierige Puzzlearbeit. Sie setzten die Steinfragmente wieder zusammen, die in den 80er Jahren gefunden und die von fünf Langzeitarbeitslosen im Rahmen einer Maßnahme des Arbeitsamtes ausgegraben und sortiert worden waren. Für die Übersetzung einzelner Grabinschriften konnte Ramona Wöllner, eine Doktorandin der Martin-Luther Universität gewonnen werden. "Die Begegnung mit diesen Steinen ist für uns lebendiger und praktischer Religionsunterricht", unterstrichen stellvertretend für alle Schüler Ann-Marie Böhme und Frederik Schmidt bei der Einweihungsfeier. Bürgermeister Horst Schröter konnte zahlreiche Gäste begrüßen, die dem feierlichen Akt beiwohnten.

Landesrabbiner Moshe Flomenmann sprach dazu Psalm 34 auf hebräisch, Dietrich Bungeroth las den deutschen Text. In bewegenden Worten wies Peter Fischer vom Zentralrat der Juden in Deutschland auf die Bedeutung des Denkmals als ein Werk hin, "das die Spur der antisemitischen Orgie sichtbar macht und Erinnerungslücken offenbart".

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt Max Privorozki hob das jugendliche Engagement hervor: Ohne diese Beteiligung hätte das Projekt "nur halb soviel Sinn". Innenminister Holger Hövelmann unterstrich, dass rechtsradikales Gedankengut immer noch zu viele Anhänger in der Gesellschaft habe. "Um dem entgegenzutreten ist es wichtig, Zeichen zu setzen". Die Dessauer Kreisoberpfarrerin Annegret Friedrich-Berenbruch legte den Fokus auf Vielfalt eines Engagements, dass Erinnerung "sichtbar und begehbar" mache.

Wörlitzer Bekenntnis

Bürgermeister Schröter erinnerte unterdessen daran, dies sei eine der letzten Amtshandlungen in Wörlitz als selbständiger Stadt. Man sei froh, noch einmal dokumentieren zu können, dass man in Wörlitz - ohne das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte zu ignorieren - vor allem die durch Fürst Franz geprägte Tradition von Aufklärung und Toleranz pflegen wolle.